Der Ort Welika Novosilka liegt in der Nähe der Frontlinie. Nach Menschen sucht man hier vergeblich. Es ist eine Geisterstadt. So gut wie jedes Haus ist zerstört, Trümmer bedecken die Strassen. «Hier ist es gefährlich, hier wird geschossen. Mit Artillerie, mit Mörsern», sagt Orest Firmanjuk und lenkt seinen Wagen durch das Städtchen.
Er ist Aufklärer im 1. Panzerbataillon der ukrainischen Armee. Daneben nimmt er sich als Presseoffizier Journalisten an und fährt mit ihnen an Orte, die ohne Begleitung kaum zu erreichen sind.
«So ein Mist. Die haben die Strasse zerschossen», sagt Firmanjuk vor sich hin. Der 49-Jährige bringt das Auto vor einem riesigen Loch zum Stehen. Eine russische Granate habe einen Krater in die Fahrbahn gerissen. Hier gibt es kein Durchkommen mehr.
«Der Beschuss muss ganz frisch sein. Ich bin nämlich gestern noch hier durchgefahren», sagt Firmanjuk und schlägt vor, über eine andere Route zu den Schützengräben zu fahren.
Der Beschuss muss ganz frisch sein, ich bin nämlich gestern noch hier durchgefahren.
Weiter geht die Fahrt über holprige Landstrassen. Durch die südukrainische Steppe. Nach Kriegsausbruch im Februar 2022 sind die Russen hier von Süden und Osten vorgestossen. Seit sie von der ukrainischen Armee gestoppt wurden, ist die Front in der Gegend stabil.
Die Russen haben andere, schwächere Orte gefunden, wo sie angreifen. Beide Armeen haben sich eingegraben und lauern auf eine Gelegenheit, den Feind überwältigen zu können.
Die Front in der Ukraine zieht sich über mehr als 1000 Kilometer hin. Mancherorts wird heftiger gekämpft, anderswo ist es ruhiger. Doch überall stehen sich hunderttausende Russen und Ukrainer gegenüber. Sie führen einen Krieg in Schützengräben, mit Kanonen, Maschinengewehren, Panzern – ein so brutaler Krieg, wie man ihn in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für möglich gehalten hat.
Zu Fuss an die Front
An einem Waldrand hält Firmanjuk an. Der letzte Kilometer zur Front muss zu Fuss absolviert werden. Ein Trampelpfad führt durch ein Feld, auf dem kleine Fähnchen im Gras das verminte Gebiert markieren.
Doch was ist mit dem ukrainischen Grossangriff? Viele glauben, dass genau hier der Hauptschlag erfolgen wird: Mit Panzern aus dem Westen und moderner Artillerie könnte hier die Armee die russische Linie durchstossen. Ein solcher Durchbruch wäre ein strategisch grosser Erfolg für die Ukraine. Denn dadurch wären Teile der russischen Truppen von der Versorgung abgeschnitten.
Orest Firmanjuk weiss davon nichts: «Sobald es mit der Offensive losgeht, wissen wir es. Vorher nicht.» Doch noch sei es nicht so weit, meint er locker.
Kurz vor der Ankunft bei den Schützengräben mahnt Firmanjuk dann aber doch zur Eile: «Da vorne an der Wegbiegung müssen wir eine Strecke rennen. Denn die Russen beschiessen diese Stelle häufig, wenn sie jemanden sehen», erklärt er. Sowohl die Russen als auch die Ukrainer haben ständig Drohnen in der Luft, mit der sie die gegnerischen Bewegungen beobachten.
Firmanjuk sagt zwar, dieser Frontabschnitt sei ruhiger als andere. Aber ruhig ist er nicht. Kurz bevor wir den Schützengraben erreichen, beginnt ein Feuergefecht. Ein Maschinengewehr ist zu hören.
Rein in den Schützengraben
Der Weg in den Schützengraben erfolgt über Treppenstufen, die in die Erde geschlagen sind. Der Graben selber ist eng und über zwei Meter tief.
Hier ist die sogenannte «Linie Null», der vorderste Punkt der ukrainischen Armee. Der Kommandant der Stellung kommt um die Ecke. Sein Kampfname: Bulava. Ein Bär von einem Mann, der eine Ruhe ausstrahlt, die nicht zu diesem Ort passt. Er habe gerade ein Nickerchen gehalten, sagt er. Die Soldaten schlafen hier in mit Isomatten ausgekleideten Erdlöchern. Viel Platz haben sie dabei nicht.
Ein anderer Soldat der Stellung nennt sich im Krieg Voron. Der 33-Jährige schätzt die Situation so ein: «Es ist ruhiger geworden, aber ab und zu machen die Russen Lärm.» Gerade vor einer halben Stunde habe es noch einen Treffer gegeben.
Voron ist seit Januar hier und wurde für den Krieg mobilisiert. Er erzählt, dass es am Anfang schwer auszuhalten war. «Dann habe ich gesehen, dass die Kameraden ruhig bleiben – auch bei Beschuss. Nun habe ich mich daran gewöhnt», sagt der junge Mann.
Vorher habe er in einer Coca-Cola-Fabrik in Kiew gearbeitet und zwei Stiefkinder grossgezogen. Auch der Presseoffizier Firmanjuk hat vier Kinder zu Hause. Jetzt verteidigen beide hier in der Steppe die Ukraine vor den russischen Invasoren.
Auf dem Rückweg zum Auto flammen die Gefechte erneut auf. Über dem Wäldchen, in dem Voron und Bulava ihren Schützengraben haben, steigt eine Rauchwolke auf. Eine russische Granate ist eingeschlagen.