Die Ukraine wählt am heutigen Sonntag ein neues Parlament. Die Partei von Präsident Wolodimir Selenski könnte künftig über die Hälfte der Parlamentarierinnen und Parlamentarier stellen. Für Selenski, der erst seit Mai im Amt ist, würde das eine ungeheure Machtfülle bedeuteten. Viele ukrainische Intellektuelle sind darüber sehr besorgt: Die Erwartungen der Menschen seien viel zu hoch - die Enttäuschung werde fast zwangsläufig kommen.
Unser Korrespondent David Nauer hat zwei ukrainische Denker getroffen. Schriftsteller und Germanist Jurko Prochasko ist einer der schärfsten Beobachter der ukrainischen Wirklichkeit.
Und zu beobachten gibt es viel in diesen Tagen: Das Land ist im Umbruch. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben im April den Komiker Wolodimir Selenski zum Präsidenten gewählt; am Sonntag wählen sie ein neues Parlament. Selenskis Partei dürfte erdrutschartig siegen.
Er hat vorsätzlich, ganz bewusst, Dinge versprochen, welche die Menschen hören wollten.
Alles klar also in der Ukraine? Mitnichten, meint Prochasko. «Es herrschen ganz unterschiedliche Stimmungen und Erwartungen.» Die Anhänger von Selenski seien in einer wahren Euphorie – während seine Gegner fast schon von Untergangsängsten geplagt würden.
Auch Prochasko schaut mit Sorge in die Zukunft, vor allem, weil er den neuen Präsidenten für einen Populisten hält. «Er hat vorsätzlich, ganz bewusst, Dinge versprochen, welche die Menschen hören wollten.»
Selenski, der «Messias»
Ein Ende der Armut. Ein Ende der Korruption. Die Vertreibung der unbeliebten Politikerkaste. Das sind Selenskis Versprechen gewesen. Und die Ukrainerinnen und Ukrainer glauben ihm blind – so blind, dass viele nun seine Partei wählen werden, obwohl sie weder deren Kandidaten noch deren Programm kennen. Hauptsache es steht der Name des «Messias», Selenskis, drauf.
Es scheint ganz so, dass die Menschen sich verzaubern, verführen lassen wollen.
Jurko Prochasko schreibt nicht nur, er ist auch Psychoanalytiker und dieser zweite Beruf hilft ihm, zu verstehen, was in seinem Land vor sich geht. «Es scheint ganz so, dass die Menschen sich verzaubern, verführen lassen wollen. Und nach den schwierigen fünf Jahren wollen sie abermals wieder Verantwortung delegieren und den Realitätssinn über Bord schmeissen.»
Tatsächlich sind die letzten fünf Jahre für die Ukraine hart gewesen. Krim-Annexion, der Krieg im Osten, die Wirtschaftskrise. Die vielen Zumutungen und Schrecken haben die Menschen ermüdet.
Selenski und seine Partei dagegen versprechen Leichtigkeit. «Sein Image als Humorist, das verführt dazu zu glauben, dass es Dinge gibt, die man mit Lachen und Humor erledigen kann. Es gibt natürlich solche Dinge, aber das gilt nicht für diesen ukrainsichen Fall», erklärt Prochasko.
Selenski? «Zu vage»
Auch der Journalist und Übersetzer Juri Durkot hält Selenski und seine Leute für wenig geeignet, die Probleme der Ukraine zu lösen. Zu vage seien seine Vorstellungen – und zu widersprüchlich die Erwartungen der Menschen. «55 Prozent seiner Wähler sind für die Nato-Mitgliedschaft, 35 Prozent aber für einen blockfreien Status. Hier haben wir einen Widerspruch.»
Solche Widersprüche gebe es viele: Etwa auch in der Wirtschaftspolitik, wo die einen Selenski-Wähler linke Ideen verträten – andere für mehr Markt einstünden. «Das heisst, dass viele seiner Wähler bald enttäuscht sein werden. Denn irgendwann muss er sich positionieren.»
55 Prozent seiner Wähler sind für die Nato-Mitgliedschaft, 35 Prozent aber für einen blockfreien Status.
Den Aufstieg von Hoffnungstägern und deren gnadenloser Absturz – das hat die Ukraine schon mehrfach erlebt. Selenskis Amtsvorgänger Petro Poroschenko war es ebenfalls so ergangen. Auch Jurko Prochasko vermutet, dass die Begeisterung der Ukrainer für ihren Präsidenten umschlagen könnte in wüste Ablehnung. «Diese billige Rache ist nicht gut für das Land. Das ist das letzte was wir brauchen.»
Für Selenski und seine Anhänger steht die Ukraine vor einem Neuanfang. Skeptiker sehen das Land bloss an einem weiteren Zyklus von Hoffnung und Enttäuschung.