Die jahrelange Arbeit in der Fabrik ging an Sergej Bolschakow nicht spurlos vorbei: «Bei uns sagt man: Tut dir der Rücken am Morgen nicht weh, dann weisst du, dass du tot bist.» Sergej arbeitet seit 23 Jahren in einer Autokran-Fabrik in der Stadt Iwanowo, einer russischen Provinzstadt, 300 Kilometer nördlich von Moskau.
In fünf Jahren hätte der heute 55-Jährige pensioniert werden sollen. Doch mit der Rentenreform, die ab 2019 in Kraft tritt, wird das nun anders sein. Statt fünf muss der Fabrikarbeiter zehn Jahre weiterarbeiten. «Selbst Präsident Putin hat früher gesagt, dass eine Erhöhung des Rentenalters keine Option sei, denn sie bedeutet, dass wir von der Werkbank direkt in den Sarg steigen», sagt der Arbeiter.
Putins Kehrtwende
Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin sich vor Jahren gegen eine Rentenerhöhung ausgesprochen hatte, kam es im August 2018 zur Kehrtwende. Bei einer Fernsehansprache sagte er: «Eines ist jetzt klar: Der Staat muss früher oder später das Rentenalter erhöhen.»
Die Reform wird nun seit Anfang 2019 schrittweise umgesetzt. Im Laufe der nächsten zehn Jahre wird das Rentenalter für Männer von 60 auf 65 und für Frauen von 55 auf 60 Jahre erhöht. Statistisch gesehen trifft die Reform die russischen Männer besonders.
Im Schnitt sterben in einer Mehrheit aller Regionen Russlands die Männer vor ihrem 65. Geburtstag – auch wenn sich die Zahlen in den vergangenen Jahren vor allem in Moskau und St. Petersburg laufend verbessert haben. In der Stadt Iwanowo liegt die Lebenserwartung für Männer zum Beispiel bei 64 Jahren.
Vor der Rente sterben?
Mit seinem Entscheid hat Putin die Wut vieler auf sich gezogen. 2018 protestierten Tausende in St. Petersburg und Moskau gegen die Reform. Auch Fabrikarbeiter Bolschakow aus Iwanowo war an lokalen Protestaktionen der Gewerkschaft dabei, denn er befürchtet die eigene Rente nicht mehr zu erleben.
Wegen der Reform kam es auch zu Protest-Austritten aus Putins Partei «Einiges Russland». Ein Beispiel ist der 36-jährige Alexander Krjutschenkow, der in der Region von Iwanowo als lokaler Sekretär für «Einiges Russland» gearbeitet hat.
Er galt als Nachwuchshoffnung, doch im vergangenen Sommer verkündete er auf Twitter seinen Parteiaustritt. Gegenüber der Rundschau findet er deutliche Worte: «Mein Vater hat Jahrgang 1964 – die Rentenreform trifft ihn mit voller Wucht. Da ich als Parteimitglied nichts dagegen machen konnte, sah ich es als meine moralische Pflicht, die Partei zu verlassen.»