Die rechtsextremen Ausschreitungen in England nehmen kein Ende, Regierungschef Keir Starmer will hart gegen die Randalierer vorgehen. Unmittelbarer Auslöser der Unruhen war der Messerangriff eines 17-Jährigen mit ruandischen Wurzeln in Southport, bei dem drei Mädchen getötet wurden. Die Ursachen für die Gewaltexplosion liegen aber tiefer, wie die Journalistin Bettina Schulz in London erklärt.
SRF News: Was sind das für Leute, die sich an den Krawallen beteiligt haben?
Bettina Schulz: Es ist kein Zufall, dass die Ausschreitungen vor allem im Norden Englands geschehen sind. Betroffen waren Städte, in denen ein sehr niedriger Lebensstandard herrscht. In den letzten Jahrzehnten ist dort viel Industrie, Kohlebergbau oder Schiffsbau kaputtgegangen, es gibt viel zu wenige Jobs.
Der Neid und die Unzufriedenheit bilden den Nährboden für die jetzt zum Ausbruch gekommene Wut.
Die Leute sind sehr arm, verbittert und frustriert. Sie sind enttäuscht von der Regierung «dort unten in London», die sich nicht um sie kümmere. Gleichzeitig sehen sie, wie Migranten ins Land kommen, Sozialwohnungen und Gutscheine zum Einkaufen in den Supermärkten erhalten und deren Kinder zur Schule gehen können. Der Neid und die Unzufriedenheit bilden unter anderem den Nährboden für die jetzt zum Ausbruch gekommene Wut.
Was haben die Probleme der Leute mit der Migration zu tun?
Es war gefährlich, dass die konservative Regierung versprach, das Einwanderungsproblem mit dem Austritt aus der EU zu lösen. Die Menschen im Norden Grossbritanniens stimmten 2016 denn auch mit grosser Mehrheit für den Brexit. Doch dieser hat das Problem nicht nur nicht gelöst – das neue Einwanderungssystem führte sogar dazu, dass mehr Einwanderer als vorher nach Grossbritannien kamen.
Die Konservativen haben die Stimmung im Land enorm aufgeheizt – um die Wahlen zu gewinnen.
In der Folge versprach die konservative Regierung, das Problem der illegal ins Land gekommenen Migranten zu lösen, indem man sie nach Ruanda abschiebt. Zugleich heizten die Konservativen die Stimmung im Land enorm auf, weil sie hofften, damit die Wahl zu gewinnen. Nun steht jener Teil der Gesellschaft, der gehofft hatte, das Migrationsproblem lasse sich durch die Abschiebungen nach Ruanda lösen, enttäuscht da.
Wie kommt das Land wieder aus dieser Negativspirale heraus?
Die neue Labour-Regierung von Premier Keir Starmer versucht es mit einem harten Vorgehen und raschen Gerichtsurteilen gegen Krawallmacher. Doch die den Unruhen zugrunde liegenden Probleme sind langfristiger: Die Integration von Migranten muss verbessert werden – und die von den Politikern mit Absicht aufgeheizte Stimmung gegen Migranten muss wieder abtemperiert werden. Es muss stärker für gegenseitiges Verständnis und friedliches Miteinander geworben werden.
Das Gesundheitssystem funktioniert kaum mehr, die Infrastruktur ist marode, die Schulen sind überfordert.
Müsste man auch bei den schlechten Lebensumständen der Leute im Norden ansetzen?
Das ist richtig. Die konservative Regierung hatte sich seit 2016 fast ausschliesslich um den Brexit gekümmert, die Menschen wurden vernachlässigt. Angesichts der vielen Wechsel in der Regierung machte diese keine «normale» Politik mehr – und das merkt man dem Land inzwischen an. Das Gesundheitssystem funktioniert kaum mehr, die Infrastruktur ist marode, die Schulen sind überfordert. Jetzt muss das Vertrauen von Investoren in eine stabile Regierung wiederhergestellt werden, damit Jobs geschaffen werden. Die neue Labour Regierung tut das – aber es wird Jahre dauern, bis tatsächliche Verbesserungen zu sehen sein werden.
Das Gespräch führte Corina Heinzmann.