Es ist der 6. Mai 2021, Morgendämmerung im Norden von Rio de Janeiro. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Favela Jacarezinho werden von Polizeihubschraubern und Schüssen geweckt. 250 schwer bewaffnete Polizisten rücken in das Armenviertel vor, um gegen die Drogengang «Comando Vermelho», das «Rote Kommando», vorzugehen. Das ist eine der grössten kriminellen Organisationen Brasiliens.
Am Ende der Operation sind 28 Menschen tot. Nie zuvor war eine Razzia in Rio de Janeiro blutiger verlaufen, nie hatte es mehr Todesopfer gegeben.
Ich war von Anfang an besorgt, weil mein Bruder dort unten wohnte, wo ich die Schüsse hörte.
«Es war schlimm, ich werde diesen Einsatz nie vergessen», sagt Regiane da Silva Pires. Sie ist 36 Jahre alt, ihre Hautfarbe ist schwarz und sie lebt schon lange in der Favela Jacarezinho. «Ich war von Anfang an besorgt, weil mein Bruder dort unten wohnte, wo ich die Schüsse hörte. Er war mit seiner Tochter in der Wohnung. Und gleichzeitig hatte ich Angst, dass die Polizisten auch in meine Wohnung kommen würden.»
Während der Polizeiaktion konnte sie ihren Bruder stundenlang am Handy nicht erreichen, am Abend dann die traurige Gewissheit: Die Polizei hat ihren Bruder mit drei Schüssen in den Rücken getötet.
Schon Anfang Jahr wurde ihr Sohn bei einer Polizeikontrolle erschossen. Er war 18 Jahre alt. Regiane sagt, sie wisse nur noch, wie man weine.
Kein Aufschrei in der Öffentlichkeit
Nach dem Polizeieinsatz bezeichnete Amnesty International die Aktion als Massaker, Brasiliens Anwaltskammer sprach von Hinrichtungen von Leuten, die sich bereits ergeben hätten. Zu den Opfern gehörten ein von Drogenhändlern erschossener Polizist und 27 von der Polizei getötete Anwohner. Alle Opfer waren schwarz.
Aber die tödlichste Polizeirazzia in der Geschichte von Rio de Janeiro kümmerte die Öffentlichkeit nicht. Es gab keinen Aufschrei.
Pedro Paulo da Silva ist Politologe an der katholischen Universität von Rio und Forscher am «Rede de Observatórios da Segurança», einer Beobachtungsstelle für Sicherheitsfragen. Er sagt: «Black Lives don’t matter – wenn das Leben von Schwarzen keine Rolle spielt, warum sollte man dann darüber berichten, es sind ja ‹nur› ein paar weitere Kriminelle getötet worden. So ein Polizeieinsatz wie in Jacarezinho wäre an jedem anderen Ort der Welt ein Skandal, aber in Rio gehört das dazu.»
Wenn das Leben von Schwarzen keine Rolle spielt, warum sollte man dann darüber berichten?
Die Polizei erklärte einen Tag nach der tödlichen Razzia, dass sie attackiert worden sei und darum das Feuer erwidert hätte. Alle 27 toten Gangster hätten Einträge im Strafregister gehabt. Als ob die Vorstrafen die Tötungen rechtfertigen würden.
Bolsonaro: «Die Polizei muss mehr töten»
Bei der Zunahme der Polizeigewalt spielt Jair Bolsonaro eine wichtige Rolle. Der brasilianische Präsident kämpft für Straflosigkeit, er will, dass Polizisten rechtlich nicht belangt werden, wenn sie jemanden im Dienst erschiessen.
Schon 2016 bejubelte er am Rande einer Pressekonferenz Polizeigewalt: «Ich denke, die bewaffnete Landespolizei muss in Brasilien mehr töten. Gewalt bekämpft man mit Gewalt. Wir wollen die Zahl der getöteten Banditen erhöhen und wir müssen diese Leute dahin schicken, wo sie es verdient haben: auf den Friedhof!»
98 Prozent der Untersuchungen über Polizeigewalt werden ohne rechtliche Folgen eingestellt. In Brasilien untersuchen nicht Staatsanwälte die Tötungen durch die Polizei, sondern die Polizei selbst.
Auch beim Massaker von Jacarezinho: Das Zivilpolizeisekretariat von Rio hat angeordnet, dass alle Dokumente während der nächsten Jahre unter Verschluss bleiben müssen. Eine Untersuchung ist so nicht möglich. Alle beteiligten 250 Polizisten sind immer noch im Einsatz.
Tod zahlreicher Strassenkindern ungeklärt
Schon seit Jahren werden Polizisten für Vergehen im Dienst nicht gebüsst. Bereits 1993 erschütterten gleich vier Massaker in Favelas die Millionenstadt Rio de Janeiro. Über 50 Menschen, darunter auch viele Strassenkinder, wurden dabei von der Militärpolizei getötet. Die Fälle wurden nie aufgeklärt.
2008 versuchte es Rio de Janeiro mit der sogenannten Befriedungspolizei. Die Idee: Fix platzierte Polizistinnen und Polizisten in den Favelas, mit dem Ziel, die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen und Vertrauen zwischen Polizei und Bevölkerung zu schaffen.
Der Chef der Befriedungspolizei, der Unidades de Policía Pacificadora (UPP), war Oberst Robson Rodrigues da Silva. Er sagt: «Wir haben die Gelegenheit genutzt, um all die Ursachen zu beheben, die zur Polizeigewalt und zu den vielen Tötungen führen.» Zuerst habe er geschaut, welche Polizisten im Dienst am meisten schiessen und diese dann ins Büro versetzt. «Mit der Befriedungspolizei wollte ich, dass die Menschen beginnen, den Polizisten zu vertrauen, statt sie zu fürchten.»
Zuerst habe ich geschaut, welche Polizisten im Dienst am meisten schiessen und diese dann ins Büro versetzt.
Die Polizei besetzte friedlich die grossen Favelas, um die Macht der Banden zu brechen. Vielerorts war so zum ersten Mal überhaupt eine staatliche Behörde dauerhaft präsent in den Armenvierteln. Und tatsächlich: Einige Jahre nach Beginn des Programms ging die Zahl der von der Polizei verübten Tötungen um 86 Prozent zurück.
Budgetkürzung beendete Befriedungsprojekt
Doch Korruption und mutmassliche Tötungen durch die Befriedungspolizei machten es unmöglich, Vertrauen bei den Einwohnerinnen und Einwohnern aufzubauen. Der Sicherheitschef von Rio de Janeiro löste die Befriedungspolizei 2016 auf, nachdem ihr Budget vom Parlament auf einen lächerlichen Betrag von umgerechnet nicht einmal 2000 Franken gekürzt worden war.
Das brutale Polizeisystem kehrte zurück. Und das befürworten viele. Zum Beispiel Fernando Salema. Der 58-Jährige ist Abgeordneter einer Mitte-rechts-Partei im Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro und amtet dort als Vizepräsident der Sicherheitskommission. Er war bis 2018 Oberst in der Militärpolizei.
Er sitzt auf einem grossen schwarzen Lederstuhl, dahinter an der Wand ein Porträt von ihm, welches doppelt so gross ist wie er. Das Bild zeigt sein Gesicht, nachgestellt aus 3000 echten goldenen und schwarzen Pistolenpatronen. Links von ihm lehnt ein eingerahmtes Foto von Präsident Bolsonaro an der Wand.
Die Polizei geht in die Favelas mit der Haltung, zu töten oder getötet zu werden.
Fernando Salema verteidigt die tödlichen Einsätze der Polizei. «Ich bin nicht bereit, die Polizei zu kritisieren, wenn sie es mit Kriminellen zu tun hat, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Die Polizei geht in die Favelas mit der Haltung, zu töten oder getötet zu werden.»
Schwarze Männer seit Kolonialzeit im Fokus
Besonders gefürchtet ist in Brasilien die Militärpolizei mit ihren Einsätzen in den Favelas. Ihre Wurzeln würden bis in die Kolonialzeit zurückreichen, erklärt die Historikerin Ynae Lopes dos Santos von der Universität Federal Fluminense in Rio. In Kürze erscheint ihr Buch über den strukturellen Rassismus in Brasilien.
«Die Militärpolizei wurde 1808 gegründet, um den portugiesischen König in Brasilien vor den aufständischen Sklaven zu schützen», erklärt sie. «Die Sklaven waren schwarze Männer und Frauen. Die Polizei wurde also in Brasilien geboren, um vom ersten Tag an Schwarze zu kontrollieren, und diese Perspektive hat sich seither nie mehr verändert.»
Als eines der letzten Länder weltweit schaffte Brasilien die Sklaverei 1888 ab. Danach sei die «Aufhellung der Rasse» zur Strategie des Staates geworden, so dos Santos. «Nach dem Ende der Sklaverei wollte Brasilien die Bevölkerung weisser machen. Erreicht werden sollte die Aufhellung der Rasse dadurch, dass weisse Männer schwarze Frauen heirateten», erklärt die Historikerin.
Das Problem liegt nicht darin, dass die Polizeiarbeit rassistisch ist, sondern darin, dass die gesamte brasilianische Gesellschaft rassistisch ist.
«Während schwarze Frauen in der Gesellschaft die Rolle der Ehefrau oder der Hausangestellten übernahmen, blieben schwarze Männer nutzlos und waren nach den rassistischen Theorien genetisch dazu veranlagt, kriminell zu sein. Das spiegelt sich auch in der Polizeigewalt von heute wider.» Das Problem liege also nicht darin, dass die Polizeiarbeit in Brasilien rassistisch sei, so dos Santos, sondern darin, dass die gesamte brasilianische Gesellschaft rassistisch sei.