«Meine Damen und Herren, das vorliegende Urteil ist keine leichte Kost», sagte der Präsident des deutschen Verfassungsgerichts Andreas Voßkuhle heute. «Erstmals in seiner Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können.»
2600 Milliarden Euro hat die Europäische Zentralbank von 2015 bis 2018 in den Kauf von Staatsanleihen und Wertpapieren investiert, um den Euro-Raum zu stabilisieren. Der Europäische Gerichtshof hatte diese Entscheidung explizit gebilligt. Das Programm widerspreche in Teilen der deutschen Verfassung, urteilte dagegen heute das höchste deutsche Gericht.
Vorerst keine Beteiligung mehr
Das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts in Karlsruhe wird wahrscheinlich weniger heiss gegessen, als es gekocht wurde. Praktisch bedeutet es: Die Deutsche Bundesbank darf sich an diesen Programmen nicht weiter beteiligen, sofern der EZB-Rat nicht binnen dreier Monate nachvollziehbar darlegt, dass diese Programme verhältnismässig sind.
Das heisst, im schlimmsten Fall könnte es der Deutschen Bundesbank untersagt werden, bei solchen Anleiheprogrammen mitzuwirken. Die Deutsche Bundesbank ist mit 26 Prozent der grösste Anteilseigner der EZB. Entsprechend gross ist ihr Kaufvolumen. Es ist aber davon auszugehen, dass die EZB in den nächsten Monaten eine ausführliche Begründung nachliefert.
Möglicherweise muss auch der Deutsche Bundestag rechtliche Korrekturen vornehmen. Wichtig ist aber: Das Bundesverfassungsgericht spricht – anders als die Kläger – nicht von einer verbotenen Staatsfinanzierung. Auch die aktuellen Corona-Hilfsprogramme der EZB seien davon nicht tangiert.
«Aktuelle finanzielle Hilfsmassnahmen der EU oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise sind nicht Gegenstand dieser Entscheidung», sagte Voßkuhle.
«Denken Sie an Polen oder an Ungarn»
Das Urteil könnte jedoch Nachbesserungen bei den Corona-Hilfsprogrammen zur Folge haben, um neue Klagen zu verhindern. Joachim Wieland, Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen, kommt gegenüber dem TV-Sender Phoenix zum Schluss, das Bundesverfassungsgericht habe im konkreten Fall eine durchaus gangbare Lösung vorgezeichnet.
Das Urteil sei aber eine grundsätzliche Kampfansage an den Europäischen Gerichtshof, weil in Zukunft auch andere Mitgliedstaaten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die ihnen nicht gefallen, mit einer ähnlichen Begründung ignorieren können. «Denken Sie an Polen oder an Ungarn. Das hat noch ganz weitreichende Auswirkungen, die man schwer absehen kann.»
Und damit könnte der EU längerfristig auch ihre Nonchalance im Umgang mit den eigenen Rechtsvorschriften schwer auf die Füsse fallen.