Mehr als eine Million 155-mm-Artilleriegeschosse aus amerikanischer Produktion hat die ukrainische Artillerie in diesem Zermürbungskrieg bisher verschossen. Für die Javelin-Panzerabwehrraketen, welche die USA seit Kriegsbeginn geliefert hat, brauchte die amerikanische Rüstungsindustrie zuvor sieben Jahre Produktionszeit. Der Krieg kostet. Und die Vorräte beginnen zu schwinden.
Die Armeeführung erkundigt sich jetzt ständig nach den Lagerbeständen.
«Die Sorge nimmt jeden Monat ein bisschen mehr zu», sagt Mackenzie Eaglen. Sie hat im Pentagon und im amerikanischen Kongress gearbeitet. Heute ist sie Rüstungsexpertin beim konservativen American Enterprise Institute. «Noch ist niemand in Panik. Aber die Sorge hat die oberste Ebene der Hierarchie erreicht. Die Armeeführung erkundigt sich jetzt ständig nach den Lagerbeständen.»
Kurzfristiger Nachschub nicht gefährdet
Kurzfristig ist der Nachschub an Artilleriegeschossen und anderer Munition nicht gefährdet. Doch das gilt nur, solange sich der Konflikt nicht ausweitet – und kein neuer dazukommt. «Wenn die USA der Ukraine weiterhin im selben Tempo Waffen und Munition liefern müssten, und wir gleichzeitig unseren Bedarf an einem anderen Ort ausweiten müssten, dann hätten wir ein Problem.»
Mackenzie Eaglen schliesst die Augen. «Das Problem ist, dass wir unsere Vorräte mutwillig knapp gehalten haben. Weil wir rosarote Kriegspläne haben, mit rosaroten Annahmen über die Dauer der Konflikte.»
Sechsmal höhere Produktion
Um den Nachschub zu garantieren, müssen die USA schon heute auf Munitionsvorräte zurückgreifen, die sie in anderen Ländern gelagert haben. Nun soll die Produktion etwa von 155-mm-Artilleriegranaten deutlich erhöht werden. Von knapp 14‘500 neu gefertigten Granaten pro Monat wie vor dem Krieg auf 90‘000 Granaten.
Der Krieg in der Ukraine hat grundlegende Schwächen in unserer Rüstungsindustrie offengelegt.
Dies kann nicht von heute auf morgen geschehen. Und die US-Rüstungsindustrie zögert. «Es gibt ein Missverhältnis zwischen dem, was der Staat garantiert zu kaufen bereit ist, und was die Industrie zu investieren bereit ist. Wenn der Staat die Abnahme nur für ein Jahr garantiert, investiert kein Rüstungsunternehmen in grössere Kapazitäten.»
Mackenzie Eaglen schüttelt den Kopf. «Doch diese Dringlichkeit ist noch nicht bei allen im Pentagon oder der Politik angekommen. Der Krieg in der Ukraine hat grundlegende Schwächen in unserer Rüstungsindustrie offengelegt. Aber es gibt noch keine geeinte Anstrengung, diese Schwächen zu beheben.»
Welche Waffen noch?
Die USA haben ihre Waffenlieferungen ständig ausgeweitet. Von Panzerabwehrraketen über Artilleriehaubitzen und Raketenwerfern hin zu den jüngsten Panzerversprechen. Die Kapazitätsanpassungen der Rüstungsindustrie mögen da nicht immer Schritt halten: «Es gibt keinen Spielraum, wenn sich die Pläne nicht an die Realität halten, wenn die Risiken höher sind als gedacht. Wenn der Konflikt länger dauert und intensiver wird als gedacht, oder wenn Alliierte weniger liefern als gedacht, dann kann dies innert kürzester Zeit zu einem Engpass führen.»
Diesen Realitätscheck, so Eaglen, hätten in Washington viele erst gerade begonnen zu machen.