Das Gericht in Colorado ist sich der Tragweite seines Urteils vollumfänglich bewusst. «Wir wissen um das Ausmass und die Bedeutung der vor uns liegenden Fragen.» Das Urteil ruht folgerichtig bis zum 4. Januar. So lange hat Trump Zeit, das Urteil am Obersten Gerichtshof der USA in Washington D.C. anzufechten. Dass es dort Bestand hat, ist unwahrscheinlich. In Colorado urteilten sieben Richterinnen und Richter, die allesamt von demokratischen Gouverneuren ernannt worden waren. Am Obersten Gerichtshof der USA halten die konservativen Richterinnen und Richter eine 6:3-Mehrheit, wovon drei direkt von Trump ernannt worden waren.
Doch das Urteil nimmt vorweg, was im kommenden Jahr auf die USA zukommt: Der Präsidentschaftswahlkampf wie auch die Präsidentschaftswahl selbst werden begleitet, überschattet und gestört durch Gerichtsprozesse, Gerichtsurteile und Verfassungskrisen. Ob die Institutionen der USA diese Stresstests überstehen werden, ist alles andere als sicher.
Wahlkampf im Gerichtssaal
Schon der gesamte Wahlkampf von Donald Trump wird sich gleichermassen auf dem «Campaign Trail» abspielen wie in den Gerichtssälen. Die Gerichtsfälle liegen in verschiedenen Jurisdiktionen, mit Beteiligten, die jedem Roman gut anstehen würden, und mit einem ehemaligen Präsidenten und wieder Präsidentschaftskandidaten, der die Kunst perfektioniert hat, das Justizsystem bis zu seinen äussersten Grenzen auszureizen (und es am Ende zu seinen Gunsten zu bearbeiten).
Auch das Urteil von Colorado wird Trump zumindest in den Vorwahlen nützen: Schon unmittelbar nach Bekanntgabe des Urteils verschickte sein Wahlkampfteam E-Mails, in denen sich Trump als Opfer einer ungerechtfertigten Kampagne darstellte und in denen um Geld für seinen Wahlkampf gebeten wurde. Seine Basis wird sich nur noch mehr um Trump scharen, und selbst seine ärgsten Konkurrenten im Kampf um die republikanische Nomination müssen ihn nun wieder verteidigen.
Vorhersehbares Chaos
Trumps Wahlkampfteam weiss um das Chaos, das es erwartet. Am selben Tag, an dem am 15. Januar in Iowa die republikanischen Vorwahlen beginnen, soll in New York der Zivilprozess gegen Trump wegen betrügerischer Vermögensangaben wiederaufgenommen werden – gefolgt von anderen Prozessen.
Gleichzeitig haben sich die Anklagen gegen Trump immer wieder als Treibstoff für den ehemaligen Präsidenten erwiesen. Zuerst haben seine Anhängerinnen und Anhänger die Lüge geglaubt, die Wahl vor drei Jahren sei Trump gestohlen worden. Nun sind immer mehr Anhänger Trumps überzeugt, das amerikanische Justizsystem sei darauf aus, ihn davon abhalten zu wollen, wieder zum Präsidenten gewählt werden können.
Stau am Obersten US-Gerichtshof
Ob sich bei der Präsidentschaftswahl selbst eine ähnliche Dynamik entwickelt, wissen wir nicht. Eine Minderheit der Republikaner gibt in Umfragen an, Trump zwar zu unterstützen, ihn aber im Falle einer Verurteilung eher nicht wählen zu wollen. Doch bis zu den Wahlen ist noch viel Zeit und es wird noch viele Überraschungen geben. Auch bei einem Teil der Trump-Gegnerschaft herrscht die Meinung vor, dass der Ex-Präsident «nicht durch Gerichte daran gehindert werden soll, wieder Präsident zu werden», wie es sein republikanischer Gegner Chris Christie formuliert, «sondern durch die Wählerinnen und Wähler».
Sicher aber ist, dass das Urteil von Colorado zu einer Häufung von weitreichenden Urteilen vor dem Obersten Gerichtshof in Washington D.C. führt. Bereits letzte Woche gelangte Sonderermittler Jack Smith, der Trump wegen versuchtem Aufstand und dem Sturm aufs US-Kapitol vor Gericht bringen will, an das höchste Gericht.
Smith will vom Gericht eine rasche Entscheidung, um ein für allemal die Frage zu klären, ob Trump überhaupt angeklagt werden kann. Smith will damit Trumps Taktik durchkreuzen, die Gerichtsverfahren mit immer neuen Eingaben zu verzögern. Auch andere Verfahren dürften unweigerlich vor dem Obersten Gerichtshof in der Hauptstadt landen. Am Ende wohl auch die Wahl im November selbst. Die Amerikanerinnen und Amerikaner wie auch die gesamte Welt werden sich damit anfreunden müssen, dass sie am Tag nach der Wahl kaum gesichert wissen werden, wer ihr nächster Präsident wird.