Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf überschlagen sich die Ereignisse. Erst entgeht Donald Trump um Haaresbreite einem Mordanschlag. Eine Woche später erklärt Joe Biden, dass er seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit zurückzieht. Nach einem Drama von shakespeareschem Ausmass weicht er dem Druck aus seiner Partei.
Ein Drehbuch, das Hollywood wohl direkt verworfen hätte. Schliesslich will man das Publikum nicht überfordern.
Veränderte Vorzeichen
Nun steht Trump nicht mehr «Sleepy Joe» gegenüber, wie er den US-Präsidenten gerne nennt. Kamala Harris übernimmt – und verleiht der lahmenden Partei wieder Flügel. Oder, wie es ein Stratege der Trump-Kampagne formuliert: Der «Harris Honeymoon» dürfte dazu führen, dass die Demokraten vorübergehend die Führung im Rennen ums Weisse Haus übernehmen.
Trump selbst ist mit 78 Jahren zum ältesten Präsidentschaftsanwärter der amerikanischen Geschichte geworden. Die Wahl zwischen zwei alten Männern, die zudem beide schon Präsidenten waren, vermochte viele Menschen in den USA nicht gerade zu elektrisieren. Jetzt muss es Trump mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau aufnehmen.
Wird Haleys Prophezeiung wahr?
Nikki Haley, Trumps einstige Rivalin um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, prophezeite im Januar: «Die erste Partei, die ihren 80-jährigen Kandidaten aufgibt, wird diese Wahl gewinnen.»
Werden Haleys Worte zur düsteren Prophezeiung für die Republikaner? Claudia Brühwiler, Dozentin für Amerikanistik an der Universität St. Gallen, relativiert: Als «neuer Biden» taugt Trump trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht. «Er ist ein ganz anderer ‹älterer Herr». Er hat im Angesicht des Todes gezeigt, wie vital und kämpferisch er noch immer ist.»
Zur Achillesferse wird Trumps Alter also kaum. Stattdessen verhöhnt er weiter vermeintliche Verfallserscheinungen beim amtierenden Präsidenten, der nur drei Jahre älter ist: «Er war soooo schlecht, man hat ihn kaum verstanden», kommentierte der Republikaner Bidens Rede im Oval Office.
Harris dürfte sich ohnehin hüten, Trumps Alter gegen ihn auszuspielen. Denn sie selbst versuchte lange Zeit, Zweifel an Bidens geistiger Fitness zu zerstreuen. Ein Umstand, den Trump bereits ausschlachtet: Er wirft ihr vor, die amerikanische Bevölkerung über Jahre hinweg getäuscht zu haben.
Republikaner brauchen neue Strategie
Eine wirkliche Strategie gegen Harris zeichnet sich bei den Republikanern aber noch nicht ab. Für Brühwiler kommt das nicht überraschend. «Man hat den Eindruck, dass sich die Partei in dieser neuen Ausgangslage erst finden muss. Die Republikaner müssen sich ‹eingrooven› und herausfinden, welche Strategie funktionieren kann.»
Die Republikaner wissen, dass diese Anfangseuphorie bei den ersten Fehltritten von Harris schnell verglühen kann.
Der «Harris Honeymoon» hat die Ernüchterung unter vielen demokratischen Wählerinnen und Wählern zwar fürs Erste vertrieben. Wie lange dieses Hoch anhält, muss sich aber noch weisen.
Das Rennen bleibt offen
Gewählt wird erst am 5. November. Der emotionale Überschwang mag die Demokraten derzeit tragen. Ob sich die erste «Verliebtheitsphase» in eine belastbare Beziehung zu Harris übersetzen lässt, ist noch unklar.
«Die Republikaner wissen, dass diese Anfangseuphorie bei den ersten Fehltritten von Harris schnell verglühen kann», schliesst die USA-Expertin. «Diesen vor allem europäischen Optimismus, dass die Demokraten jetzt die besseren Karten haben, teile ich nicht.»