Kein einfaches Amt: Historisch gesehen hat das Amt des Vizepräsidenten kein gutes Image. John Adams, der erste Vizepräsident der jungen Vereinigten Staaten, hat es einst als das unwichtigste Amt in der Geschichte bezeichnet. In den Jahren zwischen 1837 und 1989 wurde kein Vizepräsident direkt nach seiner Amtszeit zum Präsidenten gewählt. Die Amtsinhaber konzentrierten sich stattdessen auf ihre repräsentativen und legislativen Aufgaben und hielten sich mehrheitlich aus der Öffentlichkeit zurück.
Der Blick zurück: 48 Vizepräsidenten hat es bislang gegeben – und eine Vizepräsidentin. In 15 Fällen wurde der Vize später auch Präsident – meistens weil sein Vorgesetzter zurücktrat oder im Amt verstarb. So etwa Lyndon B. Johnson (LBJ) nach der Ermordung von John F. Kennedy 1963. 19 Vizepräsidenten kandidierten nach ihrer Amtszeit fürs Präsidentenamt – nur sechs schafften es ins Weisse Haus. Darunter finden sich jedoch einige berühmte Namen, etwa Richard Nixon oder George H.W. Bush.
Das sind die Aufgaben: Tritt der Präsident zurück, wird er seines Amtes enthoben oder stirbt, rückt der Vizepräsident nach. Das kann auch vorübergehend der Fall sein – etwa, wenn der Präsident notfallmässig ins Spital muss. Die zweite Aufgabe des Vizepräsidenten oder der Vizepräsidentin ist der Vorsitz des US-Senats: Bei Stimmengleichheit gibt er oder sie den Ausschlag – Kamala Harris etwa musste dies oft tun. Am 6. Januar 2021 wurde auch eine bis dahin wenig beachtete Befugnis des Vizepräsidenten bekannt, als Mike Pence dem Druck von Donald Trump standhielt und das Wahlresultat beglaubigte.
So hat sich das Amt entwickelt: Die Zeiten, in denen ein Vize in der Bedeutungslosigkeit verschwand, wie John Adams monierte, scheinen vorbei zu sein. Seit den 1970er-Jahren käme dem Vize eine wichtigere Rolle zu, erklärt Caroline Leicht, Expertin für US-Wahlkämpfe an der Universität Southampton (UK). «Man ist nicht mehr nur die zweite Garde.» Moderne Vizepräsidenten würden vermehrt eine Beratungsfunktion wahrnehmen und mit eigenen Dossiers beauftragt werden. Im Falle von Kamala Harris übertrug Präsident Biden ihr etwa die Federführung in Fragen des Abtreibungsrechts. Auch in Sachen Kommunikation seien sie wichtig, denn: «Der Präsident kann eben nicht alles alleine machen.»
Die letzten Amtsinhaber: Gemäss Caroline Leicht war Walter Mondale, Vize unter Jimmy Carter (Amtszeit: 1977 bis 1981), der erste Vizepräsident, der auch im täglichen Geschäft mitwirkte. 20 Jahre später schien Dick Cheney in der Bush-Administration für viele sogar eine Führungsrolle innezuhaben. Joe Biden, der unter Barack Obama als Vizepräsident diente, und Mike Pence, der von Donald Trump vor allem wegen seines evangelikalen Glaubens ausgewählt worden war, blieben hingegen eher im Hintergrund. Kamala Harris warfen Kritikerinnen und Kritiker in den vergangenen dreieinhalb Jahren wiederholt Profillosigkeit vor.
Die Chemie muss stimmen: Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind skeptisch, inwiefern die Auswahl eines Vizekandidaten oder einer Vizekandidatin den Ausgang einer Wahl beeinflusst. Viel wichtiger dürfte das persönliche Verhältnis zum Präsidenten sein, erklärt USA-Kennerin Leicht: «Der Vizepräsident muss dem Präsidenten den Rücken stärken.»