37'000 Chinesinnen und Chinesen sind 2023 an der US-Grenze bei ihrer illegalen Einreise aufgegriffen worden. Laut der US-Migrationsbehörde sind das fünfzigmal mehr als noch zwei Jahre zuvor. Für die Republikaner im Vorwahlkampf ein gefundenes Fressen.
Da die illegale Migration aus China aber nur gerade vier Prozent der gesamten illegalen Einwanderung ausmacht, bleibt für Barbara Colpi, USA-Korrespondentin, die Fokussierung auf chinesische Einwanderer rechte Propaganda. «Es gibt fünf Millionen Chinesinnen und Chinesen in den USA», sagt Colpi, «und die sind ganz legal im Land». Das Phänomen ist also neuerer Natur.
Schlepperbanden und Menschenhändler hätten eine neue Route für Einwanderer aus China, aber auch aus Afrika gefunden. Eine gefährliche Route, sagt Colpi. Sie beginnt in Ecuador, wohin chinesische Menschen ohne Visa einreisen können. Von da geht es zu Fuss durch den «Darien Gap», die Urwaldenge zwischen Kolumbien und Panama.
Für den Journalisten und Autor Fabian Kretschmer sind es vor allem wirtschaftliche Gründe, warum chinesische Menschen diesen gefährlichen Weg auf sich nehmen. Zum ersten Mal sei das 2022 festgestellt worden, sagt Kretschmer. «Damals dachte man, das habe mit der Null-Covid-Politik Chinas zu tun.» Als China dann aber 2023 die Pandemiemassnahmen aussetzte, seien die Zahlen erst so richtig explodiert.
Viele Chinesinnen und Chinesen haben das Gefühl, dass sie hier keine Perspektive mehr haben.
Die chinesische Wirtschaft habe sich bis heute nicht wirklich von der Pandemie erholt. Gerade für die Jugend sei die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordhoch, so Kretschmer.
Auch wenn die chinesische Führung in den vergangenen Jahren viel getan habe gegen die Armut im Land, gebe es immer noch 600 Millionen Menschen, die mit weniger als 150 Franken im Monat überleben müssten. Das Bruttoinlandprodukt in den USA ist sechsmal so hoch wie in China und in den USA lebt eine grosse chinesischsprachige Diaspora. «Viele Chinesinnen und Chinesen haben das Gefühl, dass sie in China keine Perspektive mehr haben», sagt Kretschmer.
Es sind nach Ansicht Kretschmers aber nicht nur wirtschaftliche Gründe. Viele der an der mexikanischen Grenze Aufgegriffenen aus China gäben politische Gründe für ihre Flucht an: die Verfolgung durch die kommunistische Partei oder die fehlende Möglichkeit, seine Religion auszuüben.
Viele Chinesen umgehen die Propaganda
Die illegale chinesische Migration ist marginal, nach wie vor kommen viel mehr illegale Migrantinnen und Migranten aus Zentralamerika oder neu eben auch aus Südamerika, sagt Colpi. Dennoch sei das Thema im kommenden US-Wahlkampf zentral. Deutlich gezeigt hat sich das im US-Kongress. Die Demokraten hätten schärferen Grenzmassnahmen zugestimmt, «aber die Republikaner haben den Deal nicht angenommen, um im Wahlkampf keine Argumente zu verlieren».
Auf chinesischer Seite schaut man diesem Exodus der Landsleute vorerst noch zu. Viele Chinesinnen und Chinesen schenkten den Propagandamärchen über andauernde Waffengewalt, Obdachlosigkeit, Armut und Ungleichheit in den USA Glauben. Viele, gerade wohlhabendere Chinesen, würden aber VPN-Services nutzen und westliches Internet konsumieren, sagt Kretschmer. Auf dem chinesischen TikTok gibt es sogar Anleitungen zur Flucht in die USA.
Wieso diese nicht gelöscht werden, darüber kann Kretschmer nur spekulieren. «Vielleicht ist der Staat gar nicht so unglücklich, wenn diejenigen abwandern, die keine Jobs haben und keine Perspektive finden.»