Knapp 10'000 Migrantinnen und Migranten am Tag kommen aktuell irregulär über die mexikanische Grenze in die USA – so viele wie noch nie. Die Republikaner machen die Administration des demokratischen US-Präsidenten Joe Biden für die Zustände verantwortlich und kritisieren die Migrationspolitik der Regierung. Was das für Biden, der im Herbst wiedergewählt werden will, bedeutet, erklärt der USA-Forscher Johannes Thimm.
SRF News: Inwiefern unterscheidet sich Joe Bidens Migrationspolitik von jener seines Vorgängers Donald Trump?
Johannes Thimm: Donald Trump ist mit dem Ziel angetreten, die Migration stark zu begrenzen. Und er hat sehr restriktive Massnahmen ergriffen. Im Vergleich dazu hat Joe Biden die Migrationspolitik bisher etwas weniger restriktiv gehandhabt. Aber Biden hat aus der Sicht derer, die sich von ihm erhofft haben, dass er eine sehr viel liberalere Migrationspolitik verfolgen würde, vieles von dem, was Trump eingeführt hatte, übernommen.
Welche Änderungen hat Biden konkret vorgenommen?
Zunächst hat er das Kontingent der anerkannten Flüchtlinge, die aus tatsächlichen Krisengebieten in die USA gebracht werden können, wieder erhöht. Er hat nach einer gewissen Zeit auch die Regelung wieder ausgesetzt, mit der Leute an der Grenze aufgrund der Coronabestimmungen zurückgewiesen worden sind.
Nüchtern betrachtet muss man ganz klar sagen, dass da auch Politik gemacht wird.
Er hat die Praxis der Familientrennung umgehend beendet. Und er ist auch eher wieder zu der Praxis zurückgekehrt, dass die Migrationsbehörden vor allem solche irregulären Migranten aus den USA abschieben, die straffällig geworden sind. Also wird weniger im Land nach irregulären Migranten gefahndet, mit dem Ziel, diese abzuschieben.
Der südliche Bundesstaat Texas schickt Migrantinnen und Migranten mit Bussen und Flugzeugen in Städte im Norden – und die kommen mit den Kapazitäten an den Anschlag. Wie viel Verantwortung trägt die Biden-Administration für die chaotische Lage?
Die Ursachen sind vielfältig und liegen grösstenteils ausserhalb des Einflusses der US-Regierung. Das hat eher mit Entwicklungen in den Herkunftsländern zu tun, die die Menschen zur Flucht antreiben. Das ist eine besonders grosse Herausforderung für die grenznahen Bundesstaaten. Nüchtern betrachtet muss man ganz klar sagen, dass da auch Politik gemacht wird.
Zunehmend wird auch eine rassistische und verschwörungstheoretische Terminologie benutzt.
Häufig werden Migranten mit falschen Versprechungen irgendwo hingeschickt. Es wird nicht kooperiert mit den Ankunftsorten. Es wird nicht dafür gesorgt, dass diese sich darauf vorbereiten können. Und das ist im Prinzip eine zynische Taktik der Republikaner, um den Demokraten bei dem Thema Migration zu schaden, auch wahltaktisch.
Knapp ein Drittel der Menschen vertraut Joe Biden noch in Sachen Migration. Welche Möglichkeiten hat Biden, um die öffentliche Meinung auf seine Seite zu drehen?
Bidens Regierung kann nur versuchen, durch eine gute Politik zu zeigen, dass sie Herrin der Lage ist. Die grosse Unsicherheit in der Bevölkerung beim Thema Migration rührt daher, dass es eine Wahrnehmung eines Kontrollverlustes gibt: dass Migranten unkontrolliert in die USA einströmen und dort für Chaos sorgen würden.
Es wird viel mit Ängsten gearbeitet.
Diese Wahrnehmung wird von den Republikanern auch bewusst geschürt, um auf Stimmenjagd zu gehen. Es wird viel mit Ängsten gearbeitet. Migranten werden mit Verbrechern gleichgesetzt. Zunehmend wird auch eine rassistische und verschwörungstheoretische Terminologie benutzt.
Das Gespräch führte Amir Ali.