Seit zwanzig Stunden haben die sechs Freunde nicht geschlafen. Gemeinsam wollen sie sich durchschlagen bis in die kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, mehr als 550 Kilometer von der venezolanischen Grenze entfernt.
Sie suchen ein besseres Leben und Arbeit. Alejandra hat ihre 8-jährige Tochter zurückgelassen, bei ihrer behinderten Schwester. Rubén muss so schnell wie möglich Geld verdienen: «Meine Tochter hat Epilepsie. In Venezuela gibt es keine Medikamente mehr.»
Hoffnung auf Hilfe von aussen
Stundenlang laufen sie am Rand einer Schnellstrasse, ohne Geld in der Tasche, im prallen Sonnenlicht, mit Kleinkindern auf den Armen. Rachel trägt Flipflops mit Socken. Keine geeignete Ausrüstung, um das bis zu 4000 m hohe Hochland des Páramo de Berlín zu durchqueren – unter Migranten auch als «Montaña de la Muerte», als Berg des Todes, bekannt. Die meisten kommen aus tropischem Klima, haben nicht einmal Pullover.
Täglich kommen Tausende Venezolaner über die Grenze in das kolumbianische Cúcuta. In diesen Tagen sind es besonders viele: Sie fürchten, die Grenze könnte geschlossen werden, falls der Konflikt zwischen der Regierung von Nicolás Maduro und der Opposition, die von den USA unterstützt wird, eskaliert.
An der Grenze lagern tonnenweise Hilfsgüter, angeliefert von US-Militärfliegern. Nicolás Maduro weigert sich, die Lieferungen ins Land zu lassen. Denn sie wurden organisiert von der Opposition, die Maduro nicht mehr als Staatsoberhaupt anerkennt und einen eigenen Präsidenten stellt.
Die Hilfen sind umstritten. Organisationen wie das Rote Kreuz, Oxfam oder Save the Children haben sich bisher nicht bereit erklärt, bei der Verteilung der Güter zu helfen. Sie verweisen darauf, dass humanitäre Hilfe nicht an politische Ziele geknüpft und als Druckmittel eingesetzt werden sollte. Doch die meistern der Migranten hoffen, dass die Hilfen bald nach Venezuela gelangen.
Die Grenzstadt Cúcuta platzt aus allen Nähten. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Spital überlastet. 2018 waren fast die Hälfte aller Neugeborenen Venezolaner. Die Stadt hat den Notstand ausgerufen. Einige Gemeinderäte sind zudem besorgt, dass man plötzlich im Mittelpunkt eines internationalen Konflikts stehen könnte.Die venezolanische Opposition wirbt dafür, am Samstag in einer «menschlichen Lawine» die Hilfslieferungen ins Land zu bringen. Eine gewagte Strategie.
Was macht das Militär?
Cúcuta war auch die erste Anlaufstelle für Unteroffizier Harry José Solano. Er war im Januar an einem Aufstand beteiligt: Mehrere Dutzend Soldaten wollten Nicolás Maduro aus dem Präsidentenpalast jagen. Der Plan scheiterte, die meisten Soldaten wurden gefangen genommen. Solano konnte fliehen.
Auf seiner Flucht beobachtete er das Unfassbare, erzählt Solano, sichtlich gerührt: «Ich kam in Militärkontrollen, die Soldaten erkannten mich. Statt mich zu verhaften, gaben sie mir zu essen und Geld. Obwohl Soldaten mit Prämien wie einem Auto oder einem Haus bedacht werden, im Fall von bedeutenden Verhaftungen.»
Solano ist überzeugt: Im Militär stehen nur noch die Generäle hinter Maduro. «Ich hoffe, die Soldaten trauen sich zu rebellieren». Doch genau das, was er zu berichten hat, könnte sie davon abhalten: Solanos Frau, Schwiegermutter und sein Cousin wurden – so berichtet es Solano – nach dem Militäraufstand verhaftet und gefoltert. Von dem Cousin fehle jede Spur.
Der Machtkampf um Venezuela geht in eine entscheidende Phase. Wie er ausgeht, liegt zu einem grossen Teil in der Hand der Armee.