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Verarbeitung der Coronakrise Nachdenken über eine Gesundheitsdiktatur

Es gibt nur ganz wenige Bühnen in Deutschland, die in Corona-Zeiten live vor Publikum spielen. Das Deutsche Theater in Göttingen unter dem Schweizer Intendanten Erich Sidler hat ein Corona-Stück Viren-sicher inszeniert.

Normalerweise würde man kurz vor 20 Uhr etwas atemlos zwei Stufen auf einmal auf der Treppe zum Deutschen Theater in Göttingen nehmen, um gerade noch pünktlich in die Vorstellung zu gelangen.

In Corona-Zeiten aber wird man Punkt 19 Uhr 55 in seinem Auto zur Tiefgarage des Theaters beordert, von einem barschen Ordner in Corona-Schutzanzug – das gehört zum Stück – instruiert, erhält einen Lautsprecher ins Auto und ab geht’s ins Dunkel der Garage.

Theater-Waschanlage

Das Stück funktioniert wie eine Autowaschanlage. Man fährt mit seinem Auto in die Garage, parkt. Der Schauspieler vis-à-vis sitzt ebenfalls in einem Auto, einer Gondel oder einem Glaskasten und spielt nur für einen selbst. Für mich.

Das Gesicht fast an meinem. Das ist sehr ungewöhnlich, für Schauspieler und Zuschauer. Soll ich antworten, nicken? Die Schauspieler wiederum sind manchmal irritiert über die Reaktionen des Publikums: Wegschauen, Chips-Essen …

Es gibt fünf Stationen, an denen je 15 Minuten gespielt wird, dann wechselt man. Jedes Auto rückt einen Platz vor. Zwölf Autos können pro Abend in die Tiefgarage, das Stück dauert insgesamt eine Stunde.

Durchhalten bis Weihnachten

Zwölf Zuschauer pro Abend? Wie lange hält das der Schweizer Intendant Erich Sidler mit seiner Truppe durch? «Ich schätze mal bis Weihnachten», sagt er. Zurzeit seien die Schauspielerinnen und Schauspieler auf Kurzarbeit, also staatlich finanziert, aber die Produktionen würden normalerweise durch die Einnahmen an der Kasse finanziert.

Sobald die Theater wieder öffnen, kann auch in Göttingen unter Sicherheitsauflagen im grossen Saal gespielt werden. Das heisst aber, vor nicht mehr als 100 Personen im Zuschauersaal. Reicht das?

Recht auf Krankheit?

Gespielt wird «Die Methode» nach einer Vorlage der bekannten Autorin Juli Zeh. Das Stück ist über zehn Jahre alt, aber wirkt, als sei es für die Coronakrise geschrieben worden.

Der Protagonist Moritz Holl pocht auf sein radikales Recht als Individuum, auch auf das Recht, unglücklich oder krank zu sein. «Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.» Doch er lebt in einer Art Gesundheitsdiktatur, welche die Menschen bestraft, wenn sie nicht gesund leben. Und die Höchststrafe ist Einfrieren auf unbestimmte Zeit.

Hat Intendant Sidler nicht Angst, Applaus von einer – für ihn – falschen Seite zu erhalten? «Nein», sagt er. Das Stück thematisiere verschiedene Ideen und Überzeugungen, aber verbreite keine Verschwörungstheorien. Und er beruft sich auf Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der gesagt hatte: Die verschiedenen Grundrechte in der Verfassung seien gleichwertig und beschränkten sich gegenseitig.

Das einzige Grundrecht, das in der deutschen Verfassung absolut und ohne Einschränkung gelte, sei die Würde des Menschen. «Die ist unantastbar. Aber sie schliesst nicht aus, dass wir sterben müssen.»

Echo der Zeit vom 20.05.2020, 18 Uhr

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