Auf dem Bundesplatz in Bern haben sich am Samstag mehrere tausend Menschen zu einer propalästinensischen Kundgebung versammelt. Neben der Verurteilung des «rücksichtslosen Angriffs Israels» verurteilten die Teilnehmenden auch einen angeblichen «Genozid». Was Begriffe wie «Genozid», «Völkermord» und «Kriegsverbrechen» genau bedeuten, erklärt Völkerrechtsexperte Oliver Diggelmann.
Was ist ein Genozid? Genozid – auch Völkermord – ist eines der Kernverbrechen im Völkerrecht. Es ist ein Verbrechen, welches das Völkerrecht selbst und nicht erst die einzelnen Staaten unter Strafe stellt. «Dabei ist das Merkmal von Genozid die Absicht, eine beispielsweise ethnische oder nationale Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten», erklärt Diggelmann. Dabei kommt es nicht auf die Anzahl der Opfer an. Entscheidend ist, ob die Verantwortlichen die Absicht haben, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.
Geschieht im Nahen Osten gerade ein Völkermord? «Ich sehe auf der Ebene der politischen Führung zwar einen entsetzlichen Langzeit-Territorialkonflikt», meint der Experte, «aber ich sehe aktuell auf der Ebene der Policy – der konkreten politischen Ziele – keine genozidale Absicht im Sinne des Völkerrechts.» Auf der einen Seite wolle die Hamas nämlich hauptsächlich das Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer; das jüdische Volk sei der Gruppe gleichgültig, soweit es diesem Ziel nicht im Wege steht. Auf der anderen Seite gehe es Israel um Sicherheit, allenfalls um Vergeltung. «Was aber nicht ausschliesst, dass es im Kleineren durchaus zu Verbrechen kommt, die dann von einer solchen Absicht getragen sind.»
Worin besteht der Unterschied zwischen Kriegsverbrechen und Genozid? Kriegsverbrechen sind schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts – insbesondere der Genfer Konventionen. Konkret fallen beispielsweise der Einsatz verbotener Waffen wie Streubomben oder der Angriff auf geschützte Personen wie Zivilpersonen darunter. «Diese Verbrechen können auch durchaus schlimmer sein als ein Genozid», erklärt Diggelmann. Eine Hierarchie gibt es juristisch gesehen aber keine. Kriegsverbrechen und Genozid unterscheiden sich in erster Linie in der Struktur: «Bei Kriegsverbrechen geht es nur um die konkreten Handlungen, nicht um ein übergeordnetes Ziel wie die Vernichtung eines Volksteils. Das macht den Tatbestand der Kriegsverbrechen auch einfach besser handhabbar.» Eine Auflistung mit Kriegsverbrechen ist im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) festgehalten.
Wird der Begriff Genozid politisch missbraucht? Der Genozid-Vorwurf «passt extrem gut in einfache Narrative wie Befreiungsbewegungen ‹gegen die, die alle Verbrecher sind›», meint Diggelmann. «Ich denke, der Vorwurf lenkt den Blick von den konkreten Taten ab. Es ist besser, strikt bei den Fakten zu bleiben, die man wirklich nachweisen kann.» Völkermord klingt zudem nach dem Schlimmsten. «Deshalb versuchen die Konfliktparteien regelmässig, ihren Fall als Genozid zu labeln.» Dieses Label verschafft viel mediale Aufmerksamkeit. «Das hat Folgen, die wirklich hochproblematisch sind. Denn wenn dieses Label schliesslich nicht zutrifft, dann erscheinen die Verbrechen in der allgemeinen Wahrnehmung als etwas weniger schlimm», sagt der Völkerrechtsexperte. Also nicht Genozid, sondern in Anführungszeichen nur Kriegsverbrechen. «Das ist absurd.»