Chile ist seit über 30 Jahren eine Demokratie, hat aber immer noch eine Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur. Vor drei Jahren sagte das Volk Ja zu einer Verfassungsänderung, lehnte den ersten Entwurf aber als zu progressiv sehr deutlich ab. Die neue Vorlage ist das pure Gegenteil. Südamerika-Korrespondentin Teresa Delgado skizziert die Unterschiede.
Was gibt beim neuen Text am meisten zu reden?
Der am Sonntag zur Diskussion stehende Verfassungsentwurf ist vor allem wegen der geplanten Verschärfung des Abtreibungsrechts heftig umstritten. Schützt die bisherige Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur das Recht auf Leben, so definiert der neue Vorschlag zusätzlich Embryos und Föten im Bauch der Mutter klar als Personen. Zudem sollen künftig Dienstleistungen aus Gewissensgründen verweigert werden können: Ärztinnen oder Ärzte könnten Abtreibungen aus religiösen Gründen ablehnen, Bäcker könnten sich weigern, eine Hochzeitstorte an ein gleichgeschlechtliches Paar zu liefern.
Was sind die weiteren Unterschiede zur ersten Vorlage?
Der erste Verfassungsentwurf wurde stark von den Indigenen mitgeprägt und wollte ihren Stimmen mehr Gewicht geben sowie allgemein Frauenrechte stärken – zum Beispiel Hausarbeit anerkennen. Das ging vielen Chilenen zu weit und wurde als zu links-progressiv kritisiert. Der jetzt vorliegende Text wird ebenso als frauenfeindlich taxiert, obwohl ein Frauen-Mindestanteil von 40 Prozent auf Wahllisten festgeschrieben werden soll.
Was ist von der ersten Vorlage geblieben?
Fast übersehen wird in der hitzigen Diskussion über die Abtreibungsregelung, dass der neue Verfassungsvorschlag auch einige Vorschläge der gescheiterten ersten Vorlage übernommen hat. Dazu gehört das Verbot der Lohndiskriminierung von Frauen. Ebenso enthalten bleibt die Anerkennung der Indigenen als schützenswerte Urvölker Chiles, zu denen der Staat Sorge tragen muss. Beide Versionen definieren Chile zudem als demokratischen Sozialstaat, was bisher trotz mehrfacher Reformen nicht gelungen ist.
Wie ist der grosse Widerstand zu erklären?
Viele sind der Verfassungsdiskussion mittlerweile überdrüssig. Vor allem die links-progressive Wählerbasis von Präsident Gabriel Boric fühlt sich nicht mehr angesprochen. Sie hatte 2019 – begleitet von grossen sozialen Unruhen und noch vor Corona – das Projekt angestossen. Ob die Mitte der Gesellschaft oder gemässigt konservative Kräfte überhaupt eine neue Verfassung wollen, ist fraglich. Die rechtskonservativen Republicanos wiederum haben die zweite Vorlage zwar entscheidend mitgeprägt, wollten aber ursprünglich die Verfassung gar nicht ändern.
Wie sind die Chancen der neuen Vorlage?
Nachdem die erste Vorlage vor gut einem Jahr von fast zwei Dritteln des Stimmvolkes abgelehnt wurde, stehen die Chancen für den neuen Entwurf ebenfalls eher schlecht. Laut Umfragen wollen 51 Prozent ein Nein einlegen, 34 Prozent sind dafür, und 15 Prozent haben keine Meinung.
Was wäre für eine Annahme der Vorlage nötig?
Für eine Annahme bräuchte es einen mehrheitsfähigen Vorschlag, der nicht so stark polarisiert und trotzdem eine Verbesserung zur bisherigen Verfassung darstellt. Eine erneute Ablehnung wäre ziemlich sicher das Aus für das Experiment. Die Regierung kündigte bereits an, dass sie keinen dritten Anlauf unterstützen will.