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Vergessene Soldaten Russlands Töten, weil es andere auch tun

In fünf Lagern, verteilt über die Ukraine, sind russische Kriegsgefangene untergebracht. Die Ukraine behandelt sie angemessen – und möchte sie möglichst schnell austauschen.

Sie tragen dunkelblaue Jacken, Mützen, abgetragene Hosen und schwere Schuhe. Sie gehen gesenkten Hauptes in dem kahlen Hof hin und her, die Hände auf dem Rücken, in kleinen Gruppen oder allein. Einige kauern auf dem Boden, andere sitzen auf einer Bank, schwatzen oder rauchen. Oder sie starren ins Leere. Handys, die Ablenkung bringen würden, sind nicht erlaubt. Vom nahen Sportplatz hört man Geräusche eines Fussballspiels.

Alle sind hingegangen, da bin ich auch gegangen.
Autor: Wjatscheslaw Gefangener Soldat aus Russland

Vorher war Arbeit angesagt, nun ist Pause. Wir können mit den Kriegsgefangenen reden, verhältnismässig frei, die Aufseher halten Abstand. Wir sprechen zwei der Männer an, einen grösseren mit wachen grauen Augen, und einen kleineren mit harten Gesichtszügen, der verschlossen wirkt. Sie nennen uns die Namen Wjatscheslaw und Artjom, sie sind russische Vertragssoldaten, «kontraktniki», und lassen sich – zuerst etwas widerwillig – auf ein Gespräch ein.

Die Hoffnung auf den Austausch

Der 34-jährige Wjatscheslaw stammt aus der sibirischen Stadt Orenburg. Auf die Frage, warum er sich entschieden habe, in den Krieg zu ziehen, zögert er kurz und nuschelt dann:
«Weiss nicht, schwer zu sagen.»
Eher aus ideologischen oder finanziellen Gründen?
«Beides.»
Und was haben Sie von diesem Krieg erwartet?
«Vom Krieg? Alle sind hingegangen, da bin ich auch gegangen. Meine Freunde sind hin, da habe ich es auch getan.»

Gruppe von Männern im Gefängnisinnenhof, einige sitzen, andere stehen oder gehen.
Legende: Die Insassen im Hof des Kriegsgefangenenlagers haben Pause und sitzen oder laufen in der Sonne. SRF / Judith Huber

Der 33-jährige Artjom hofft auf einen baldigen Gefangenenaustausch: «Wir sitzen schon seit 11 Monaten hier, andere noch länger. Wie lange soll das noch gehen? Aus diesem Lager wird nie jemand ausgetauscht, ich weiss nicht, warum.»

Die Ukrainer sind ganz normale Leute, wie andere auch.
Autor: Artjom Gefangener Soldat aus Russland

Und dann, wenn er zu Hause ist, zieht er dann nochmals in den Krieg? Es gibt Lagerinsassen, die das getan haben und zum zweiten Mal gefangen genommen wurden. Ein Grinsen huscht über das Gesicht von Wjatscheslaw, als er sagt: «Das wissen wir nicht, wir sind noch nicht dort. Erst dann sehen wir es.» Artjom meint: «Das hängt nicht von uns ab», und Wjatscheslaw ergänzt: «Von uns hängt eh nicht viel ab.»

Soldaten, die gegen Soldaten kämpfen

Die beiden bestätigen, was auch andere Gefangene sagen: Sie werden anständig behandelt, erhalten regelmässig zu essen und werden medizinisch versorgt. Beide sagen, die Ukrainer seien eigentlich ganz in Ordnung. Artjom ergänzt: «Die Ukrainer sind ganz normale Leute, wie andere auch.»

Und warum kämpfen sie denn gegen sie? Artjom schaut Hilfe suchend zu Wjatscheslaw, der schliesslich sagt: Sie seien Soldaten, die gegen Soldaten kämpften, denn wenn auf einen geschossen werde, dann schiesse man eben zurück.

Man hat es uns befohlen und wir gehorchen.
Autor: Wjatscheslaw Gefangener Soldat aus Russland

Auf den Einwand, dass Russland die Ukraine angegriffen habe, sagt Artjom, Russland habe sich verteidigen müssen. Wjatscheslaw hingegen meint: «Wir sind nicht die Regierung, wir wissen es nicht. Man hat es uns befohlen und wir gehorchen.»

Kampf für die russische Welt

Wir sprechen noch mit weiteren Insassen, etwa mit dem tätowierten, 32-jährigen Alexej, der stolz auf seine Vergangenheit als Berufsverbrecher ist und sagt, er kämpfe für die russische Welt. Oder mit Iwan, einem Mann mit traurigen Augen aus der besetzten Ostukraine, der sich aus dem Gefängnis rekrutieren liess, weil man ihm die Freiheit versprach. Er hatte früher einen Buchladen, liebt Literatur und liest bis heute fleissig, wie er sagt – und tatsächlich befindet sich neben einem Bett im Schlafsaal ein Stapel Bücher. 

Schlafsaal mit Einzel- und Etagenbetten.
Legende: Ein Schlafsaal für die russischen Kriegsgefangenen. SRF / Judith Huber

Oder da ist ein junger Slowake, der offensichtlich massive psychische Probleme hat – auch er liess sich von Russland anwerben und sitzt nun in dem Lager, zusammen mit anderen Gefangenen aus Ländern wie Nepal, Brasilien und Sri Lanka.

Fremde Soldaten – Söldner Russlands

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16 Männer aus dem fernen Ausland sitzen zur Zeit des Besuchs in dem Gefangenenlager in der Westukraine, darunter ein Brasilianer, ein Slowake, mehrere Nepalesen und ein Mann aus Sri Lanka. Mit einem der Nepalesen können wir sprechen. Er ist 33 Jahre alt, seinen Namen nennen wir zum Schutz seiner Person nicht. 

Er habe in Nepal auf dem Bau gearbeitet, erzählt er. Während der Coronapandemie habe er Schulden gemacht. Deshalb habe er sich nach einem besseren Verdienst im Ausland umgeschaut. Eines Abends entdeckte er einen alten Freund aus seinem Heimatort auf Facebook: in russischer Uniform. Er habe ihm eine Kontaktanfrage geschickt. «Am selben Tag haben wir miteinander gesprochen, der Freund sagte: Alles ist bestens hier, wir arbeiten im Hintergrund, für die Logistik, nicht an der Front. Der Lohn sei gut, er habe zwar selber noch keinen erhalten, aber die anderen schon. Alles ist gut hier.»

Dann ging es schnell. Auf Anraten des Freundes besorgte er sich ein Besuchervisum für Russland und unterschrieb in Moskau einen Vertrag mit der russischen Armee. Von Russland wusste er kaum etwas, von der Ukraine schon gar nicht. Und auch nicht vom Krieg: Er war noch nie im Militär. Doch schon nach wenigen Tagen Ausbildung wurde er in die Ukraine geschickt, ins Gebiet Saporischja. Und dort an die Front. Er habe ukrainische Positionen angreifen müssen, erzählt der 33-jährige Mann aus Nepal. 

Doch vereinbart war etwas anderes. Er habe seinen Kommandanten darauf angesprochen. Der habe ihm ins Gesicht gesagt: «Hier läuft das anders. Du musst tun, was ich sage.» 

Da half es auch nicht, dass er nicht der einzige Vertragssoldat aus Nepal war in seiner Truppe. 15 bis 18 Nepalesen hätten zusammen mit ihm gedient. Die Gesamtzahl der Nepalesen, die der russischen Armee beigetreten sind, schätzt er auf 4000 bis 5000 Mann. 

Geld hat er keines erhalten, denn er wurde noch vor Ablauf des ersten Monats von den Ukrainern gefangen genommen. Seit einem Jahr ist er in Gefangenschaft, und wie es mit ihm weiter geht, ist unklar. Nur eines weiss er: Er möchte so schnell wie möglich raus aus dem Gefängnis. 

Doch das wird wohl dauern. Denn jemand, der aus rein finanziellen Gründen fremde Kriegsdienste leistet, gilt als Söldner und ist deshalb rechtlich anders gestellt als Kriegsgefangene, die in ihrer eigenen Armee gedient haben. 

Doch festzustellen, ob jemand Söldner ist oder nicht, das obliegt den Gerichten. Deshalb warten die betroffenen Insassen auf einen Gerichtsentscheid und eine allfällige Strafe. Ausserdem, sagt Sprecher Petro Jazenko: Nicht alle Länder wollten ihre Staatsbürger zurück. Das gelte insbesondere für Kuba oder einige afrikanische Länder. Die seien nicht bereit, mit der Ukraine über die Rückkehr zu verhandeln. Und gewisse Häftlinge wollten gar nicht zurück, weil in ihrem Heimatland ebenfalls das Gefängnis auf sie warte.

Ein Mann in weisser Schürze schöpft eine Portion Fleisch in einen Blechnapf und stellt diesen auf ein Tablett. Dazu gibt es Suppe, Salat und Brot aus der eigenen Bäckerei. Die Gefangenen verzehren das Mittagessen still, im grossen Saal ist lediglich leises Murmeln zu vernehmen.

Gestell mit Schüsseln mit geschnittenem Salat.
Legende: Für die Verpflegung der Kriegsgefangenen ist gesorgt. SRF / Judith Huber

Dann: Stühlerücken, die ersten vier Gefangenen stehen auf und sagen laut auf Ukrainisch: «Danke für das Mittagessen.»

Die vergessenen russischen Soldaten

Der Ukrainer Petro Jazenko ist eigentlich Schriftsteller. Doch der Krieg hat auch sein Leben umgekrempelt, er arbeitet als Sprecher der ukrainischen Behörden. Er betont, dass sich die Ukraine an die Vorgaben der Genfer Konventionen halte, die den Umgang mit Kriegsgefangenen regeln.

Man sei sehr transparent, Vertreter internationaler Organisationen, so etwa des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, hätten vollen Zugang zu den Kriegsgefangenen. Eine Aussage, die vom IKRK – mit wenigen Einschränkungen – bestätigt wird.

Gruppe von Männern steht mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Gefängnishof.
Legende: Appell vor dem Mittagessen SRF / Judith Huber

Jazenko sagt auch, dass das IKRK und andere internationale Organisationen punktuell Hilfe leisten würden. Doch der Betrieb der insgesamt fünf Lager werde hauptsächlich vom ukrainischen Staat finanziert. Jazenko betont: Man wolle die Insassen so schnell wie möglich gegen ukrainische Kriegsgefangene austauschen und nicht noch Geld für sie ausgeben.

Doch das sei schwierig, so Jazenko: Russland habe diese Leute vergessen, manche seien schon mehr als zweieinhalb Jahre hier. Ausgetauscht würden vorwiegend junge Rekruten. Aber diese Leute hier, die seien nicht gefragt.

Die Ukraine wird wohl noch länger für Männer wie Artjom, Wjatscheslaw oder Alexej aufkommen müssen, die ins Land eingedrungen sind, um zu töten.

Echo der Zeit, 15.02.2025, 18:00 Uhr;stal

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