Ein gellender Schrei durchdringt die Nacht. Ein Schrei, der auch Abhayas Schrei sein könnte. Aber es ist nur der Versuch der Aktivistin Jhil und ihrer kleinen Theatertruppe, ein kollektives Trauma aufzuarbeiten – die brutale Vergewaltigung der jungen Ärztin «Abhaya» in Kolkata im Bundesstaat West-Bengalen diesen Sommer.
Das Stück dazu führt Jhil, das Gesicht noch voller Theaterblut, bei einer der zahlreichen Demonstrationen auf. Das Thema geht ihr nahe, denn Abhaya ist kein Einzelfall: «Frauen werden bei uns wie Göttinnen verehrt. Aber gleichzeitig werden Frauen vergewaltigt. Von den gleichen Männern, die sie verehren. Genau das passiert in unserer Gesellschaft.»
Bei Vergewaltigung geht es nur um die Frage, wer mehr Macht hat – du oder ich.
Der Fall Abhaya ist der bekannteste Vergewaltigungsfall seit Jahren in Indien. Er hat zu Empörung und monatelangen Protesten im ganzen Land geführt. Und er hat daran erinnert, dass im aufstrebenden Indien an jedem einzelnen Tag fast 90 Frauen vergewaltigt werden. Das ist nur die offizielle Zahl – und die Dunkelziffer wird als sehr hoch eingeschätzt.
Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist normal in Indien. Obwohl auch viele Frauen inzwischen gut ausgebildet und selbstbewusst sind, trauen sie sich abends vielerorts nicht auf die Strasse. Die Studentin Jhil in Kolkata versucht es mit einer Erklärung. «Ich glaube, bei Vergewaltigung geht es nur um Macht. Es geht nicht um sexuelle Bedürfnisse. Es geht nur um die Frage, wer mehr Macht hat – du oder ich.»
Schwere Vorwürfe gegen die Behörden
Kolkata – die Stadt Mutter Teresas – ist noch Monate nach dem brutalen Vergewaltigungsmord im Ausnahmezustand. Auch die pensionierte Lehrerin Shukla demonstriert immer wieder – für das Opfer und für Frauen im Allgemeinen. «Selbst gut ausgebildete Frauen in guten Positionen werden in Indien nur als Objekte angesehen, die beliebig benutzt werden können. Das patriarchalische System ist schuld», sagt sie.
Im Chor mit Hunderten anderen Demonstrierenden ruft Shukla : «Wir wollen Gerechtigkeit.» Ein Mann mit dunkler Brille neben ihr nickt zustimmend. «Wenn wir jetzt nicht auf die Strasse gehen, ändert sich nichts», sagt er.
Der Fall Abhaya war nicht nur besonders brutal – er weist auch viele Ungereimtheiten auf. Die junge Ärztin hatte sich nach einer 36-stündigen Schicht im Spital in einem Seminarraum ausgeruht. Am Morgen danach wurde ihr Körper gefunden: halbnackt, in schrecklichem Zustand. Der Klinikdirektor gab dem Opfer die Schuld: Sie hätte nachts nicht im Seminarraum sein sollen.
Diese Vergewaltigungskultur in unserer Gesellschaft muss gestoppt werden.
Viele Demonstrierende sehen die Ärztin als Opfer eines korrupten Systems. Im Vergewaltigungsfall gibt es schwere Vorwürfe gegen den früheren Spitaldirektor, den Polizeichef und sogar höchste Kreise der Regierung. Auch die indische Bundespolizei ermittelt in dieser Richtung. Noch immer ist die Tat nicht aufgeklärt. Vielleicht laufen die Täter noch frei herum.
Die 28-jährige Samarthita in Kolkata, eine selbstbewusste, berufstätige Frau, traut sich kaum mehr auf die Strasse. «Wir Frauen sind hoffnungslos, aufgebracht und verzweifelt. Wir sind nie sicher. Es kann uns jederzeit auch passieren. Diese Vergewaltigungskultur in unserer Gesellschaft muss gestoppt werden.»
Der Fall «Nirbhaya» empörte über Indien hinaus
Die Vergewaltigung der jungen Ärztin in Kolkata weckte bei vielen Erinnerungen an einen weiteren prominenten Vergewaltigungsfall vom Dezember 2012 in Delhi. Eine 23-jährige Physiotherapeutin war damals nach einem Kinobesuch mit einem Freund auf dem Rückweg nach Hause. In einem Bus fielen sechs Männer über sie her. Zwei Wochen später starb sie an den furchtbaren Verletzungen. Der Fall «Nirbhaya» – dies ist nicht ihr richtiger Name – empörte weit über Indien hinaus.
Ein anständiges Mädchen hat abends um neun Uhr auf der Strasse nichts mehr zu suchen.
Seit dem Verbrechen trägt Delhi den unrühmlichen Titel «Welthauptstadt der Vergewaltigungen». Auch zwölf Jahre nach der Tat ist Delhi noch immer die unsicherste Stadt für Frauen in ganz Indien. Nicht nur die Tat empörte, sondern auch die Reaktionen. Einer der «Nirbhaya»-Täter, der später für seine Tat gehängt wurde, wies die Schuld von sich.
«Ein anständiges Mädchen hat abends um neun Uhr auf der Strasse nichts mehr zu suchen», sagte er in einem Interview mit der BBC. Eine Frau sei für eine Vergewaltigung viel mehr verantwortlich als ein Mann. Das Opfer hätte sich nicht wehren, sondern einfach stillhalten sollen.
Auch einer der Verteidiger der Täter sah die Schuld beim Opfer. Sollte seine Tochter oder Schwester voreheliche Beziehungen pflegen und dadurch ihr Gesicht verlieren, würde er sie zu seinem Landhaus bringen und vor der gesamten Familie mit Benzin übergiessen und anzünden, sagte der Anwalt der BBC.
Das sind Meinungen, die sehr verbreitet sind in Indien.
Die Schuld wird oft der Frau, dem Opfer gegeben
Das weiss die Sozialwissenschaftlerin Barthi Sharma aus langjähriger Erfahrung. Die bald 84-Jährige empfängt in ihrem ruhigen Haus im Bundesstaat Haryana, an der Grenze zu Delhi. Seit Jahrzehnten arbeitet die alte Dame mit Opfern von Gewalt, auch sexueller Gewalt, bietet Schutzräume für Opfer. Die Argumentation des «Nirbhaya»-Täters kommt ihr bekannt vor.
Es sei typisch für die indische Gesellschaft, dass die Verantwortung für sexuelle Gewalt der Frau gegeben werde, sagt Sharma. Begründet werde das damit, dass die Frau den Mann erregt habe – durch ihre Kleidung, durch ihre Bewegungen, durch die falsche Zeit, in der sie unterwegs gewesen sei. Oder weil sie allein unterwegs gewesen sei, ohne männliche Begleitperson. «Es gibt unzählige Gründe, um eine Frau für eine Vergewaltigung verantwortlich zu machen», sagt die Sozialwissenschaftlerin.
Zu erklären sei diese Denkweise mit der indischen Kultur. Die Familienehre sei sehr wichtig. Die Frau, Mutter, Tochter seien dafür verantwortlich, diese Ehre zu verteidigen. Um jeden Preis.
Die indische Gesellschaft ist absolut durchdrungen vom Patriarchat.
Die Wurzeln dieser Haltung sieht Barthi Sharma in der traditionellen Vormachtstellung der Männer. «Die indische Gesellschaft ist absolut durchdrungen vom Patriarchat.»
In diesem Patriarchat liege alle Macht beim Mann. Das habe Folgen für alle Bereiche des Lebens: alle Normen, alle Behörden. Auch für das Polizeisystem. Männliche Polizisten machten auch deshalb viele Fehler, weil sie in diese Kultur hineingeboren seien. Wenn Vergewaltigungsopfer kämen, werde ihnen oft gesagt: «Geh nach Hause. Dein Platz ist bei deinem Ehemann.»
Buben in der Schule sensibilisieren
Es sei nicht einfach, diese Denkweise zu ändern, sagt Barthi Sharma. Man müsse sehr behutsam und leise vorgehen und früh anfangen. Am besten mit den Kindern. Genau das versucht Harish Sadani.
Eine steile Treppe führt in den zweiten Stock der «Unified English High School». Ventilatoren an der Decke vertreiben die feuchte Wärme aus dem Klassenzimmer. Gut 50 Schüler zwischen 13 und 15 Jahren sitzen dichtgedrängt hinter schmalen Pulten. Sie sind aufgeregt, weil sie Besuch haben.
Harish Sadani ist Sozialarbeiter und Mitbegründer der NGO MAVA. Das steht für «Men against Violence and Abuse» – Männer gegen Gewalt und Missbrauch. Er ist ein unauffälliger kleiner Mann in kariertem Hemd, hat aber eine grosse Mission. Seit mehr als 30 Jahren versucht seine Organisation, Buben und junge Männer zu erziehen. Um zu verhindern, dass sie später in ihrem Leben Frauen misshandeln und vergewaltigen.
«Wenn man die Vergewaltigungskultur bekämpfen will, dann muss man auch die Mikro-Aggressionen bekämpfen, den Frauenhass, den Sexismus im Alltag – alles, was hier nicht als Gewalt angesehen wird, als nichts, was die Würde eines Menschen verletzt», betont er.
Je früher wir mit Kindern arbeiten, desto besser.
Harish Sadani hat ein Team von jungen Trainern mitgebracht. Einige waren früher selbst in seinen Kursen. «Wir arbeiten mit Jungen und jungen Erwachsenen. Sie sollen in Frauen keine Menschen zweiter Klasse sehen und auch keine Sexobjekte, sondern gleichberechtigte Personen.» Dafür geht MAVA in Schulklassen und versucht die Buben dazu zu bringen, über ihr Verhalten nachzudenken, und über ihre Ansichten. «Je früher wir damit anfangen, desto besser.»
«Nirbhaya» sollte der letzte Fall sein
Während Sozialarbeiter Harish Sadani und sein Team versuchen, bei der Erziehung anzusetzen, arbeitet Yogita Bhayanas in Delhi daran, die Politik und das Justizsystem zu verändern. Im Süden Delhis ist das Büro ihrer Hilfsorganisation «People Against Rapes in India». Nicht weit vom Ort entfernt, an dem «Nirbhaya» 2012 vergewaltigt und ermordet wurde.
Die Frau Anfang 40 hat Hunderte von Vergewaltigungsopfern bei ihrem Kampf durch die Instanzen unterstützt und im Leben danach weiter begleitet, auch finanziell. Auf einem Tisch stehen gerahmt ihre Auszeichnungen: Mutter-Teresa-Gedächtnispreis, Sozialarbeiterin des Jahres, noch einige andere.
Ich wollte die Leute mobilisieren und startete diese Bewegung. ‹Nirbhaya› sollte der letzte Fall sein.
Als der Fall «Nirbhaya» die Welt erschütterte, arbeitete sie noch für die Regierung, für die Nationale Frauenkommission. Doch die habe es nicht geschafft, Frauen wie «Nirbhaya» vor sexueller Gewalt zu schützen, sagt die Aktivistin. Darum habe sie die Seiten gewechselt. «Ich wollte die Leute mobilisieren und startete diese Bewegung. ‹Nirbhaya› sollte der letzte Fall sein.»
Am Anfang sah es tatsächlich so aus, als könnte der Fall «Nirbhaya» etwas bewegen. Ein neues Gesetz wurde verabschiedet, das für besonders brutale Vergewaltigungen die Todesstrafe einführte. Und in Delhi eine neue Regierung gewählt, die versprach, die Sicherheit für Frauen zu verbessern. Doch ein ums andere Jahr sei vergangen und immer mehr Frauen seien vergewaltigt worden, sagt Yogita Bhayana. Nichts passierte.
Die zuständige Regierungsbehörde, wollte das auf Anfrage nicht kommentieren.
Frauenrechtlerin will die Politik frauenfreundlicher machen
Inzwischen sei die indische Gesellschaft immun geworden gegen Vergewaltigungen, sagt Yogita Bhayana. Selbst die schlimmsten Fälle würden nur noch auf den hinteren Seiten der Zeitungen erwähnt, wenn überhaupt. «Indien hat sich an die vielen Vergewaltigungen gewöhnt, sie sind normal geworden.»
Viele Opfer gingen gar nicht erst zur Polizei. Aus Angst vor den Tätern, mangelndem Vertrauen in die Polizei oder aus Scham. Doch selbst von den sehr wenigen angezeigten Fällen kommt es bei nicht einmal drei Prozent – und oft erst Jahrzehnte nach der Tat – zu einer Verurteilung. Denn viele Fälle werden aus Mangel an Beweisen eingestellt, was kein gutes Licht auf die Polizeiarbeit wirft.
Indien hat sich an die vielen Vergewaltigungen gewöhnt, sie sind normal geworden.
Die Todesstrafe wurde 2013 eingeführt. Aber sie wird sehr selten verhängt und ist unter Kriminologen umstritten. Sie scheint Männer auch nicht abzuschrecken, wie die Statistik zeigt. Die Aktivistin Yogita Bhayana will weiterkämpfen. In einem Politikpapier hat sie Vorschläge an die Regierung gemacht, wie man sexuelle Gewalt gegen Frauen verhindern könne.
«Wir wollen einen Wandel», sagt sie. Das Papier enthalte einen detaillierten Aktionsplan. Unter anderem soll die Hälfte der Polizisten künftig weiblich sein, Gerichtsverfahren sollen beschleunigt und Sexualkundeunterricht an Schulen verbindlich eingeführt werden. Das alles soll die nationale Regierung schon bis zur nächsten Wahl 2029 umsetzen.
Die Frauenrechtlerin hat die Hoffnung nicht verloren, dass die Gesellschaft und die Politik sich ändern können. Doch egal, ob auf sozialem oder politischem Weg – allen ist klar: Der Kampf gegen die Vergewaltigungskultur in Indien wird noch sehr lange dauern.