Renu ist eine ungewöhnliche Erscheinung im Stadtbild von Delhi: Eine Frau am Lenkrad eines Taxis. «Fahren fühlt sich gut an», sagt sie, «auch noch nach fünf Jahren». Renu chauffiert für das Unternehmen Sakha Wings Passagiere durch die Strassen der indischen Hauptstadt. Es ist ihr erster Job. Ihr Einkommen macht sie finanziell unabhängig von ihrer Familie.
Die grösste Herausforderung für ihre Arbeit seien die Vorurteile in der Gesellschaft. «Die Männer denken, dass wir die Arbeit nicht richtig machen oder dass sie Verluste schreiben, wenn sie eine Frau anstellen», sagt Renu.
Das sei ein Anlass zur Sorge, sagt Ashwini Deshpande, Volkswirtschaftsprofessorin an der Ashoka-Universität. Sie studiert das Thema seit Jahren. «Frauen sind 50 Prozent der Gesellschaft und höchst produktiv. In Indien ist der Rückstand in Bildung gegenüber den Männern heute praktisch verschwunden», sagt sie. Sie wünscht sich mehr Frauen in der Wirtschaft. Einerseits aus Gründen der Gleichberechtigung, andererseits weil sonst so viel ökonomisches Potenzial brachliege.
Immer noch traditionelle Rolle
In Indien arbeitet gemäss den letzten Zahlen des Ministeriums für Statistik nur ungefähr ein Drittel der Frauen. Das ist wenig: In China waren es bereits 1990 über 70 Prozent. In anderen Ländern Asiens sind es heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
Tripti Singhal Somani hat das brachliegende Potenzial erkannt. Sie hat die Plattform Womennovator gegründet, die Start-ups von Frauen berät und auf den Markt bringt. Sie ist optimistisch: «Können Sie sich vorstellen, wie gross wir mit dieser Bevölkerung in Indien werden können? Aber das klappt nur, wenn wir die Frauen im grossen Stil einbeziehen.» Vor allem in den Städten würden viele Frauen immer noch einfach traditionelle Rollen übernehmen – das will die Unternehmerin vermeiden.
Laut Prognosen der Weltbank soll die indische Wirtschaft im Jahr 2024 um 7.5 Prozent wachsen. Sie könnte in absoluten Zahlen bald Japan als viertgrösste Wirtschaft der Welt ablösen. Doch dieses Wachstum findet vor allem im Finanz-, Technologie- und Immobiliensektor statt und schafft nur wenig Arbeitsplätze für Millionen geringqualifizierte Inderinnen und Inder.
Volkswirtschaftsprofessorin Ashwini Desphande verweist auf die Arbeit der US-Ökonomin Claudia Golden, die beschreibt, wie Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA begonnen hätten zu arbeiten – und sich so viele Normen verändert hätten. Das sei in Indien noch nicht geschehen.
Appell an neue Regierung
Indien sei heute zum Beispiel im Finanzsektor oder im Bereich der Medizin innovativ und im weltweiten Vergleich führend, aber es fehlen Jobs am unteren Ende. «Wir müssen sicherstellen, dass die Mehrheit der Bevölkerung ein anständiges Einkommen hat», sagt Desphande, «ohne dass junge Menschen produktiv arbeiten, inklusive Frauen, können wir das nicht verwirklichen». Das sei Indiens grösste Herausforderung und die wichtigste Aufgabe für die nächste Regierung.
Taxifahrerin Renu zeigt, dass es möglich ist. Sie navigiert Tag für Tag sowohl im Verkehr von Delhi, als auch in der männlichen Arbeitswelt. Durch ihren Job habe sie realisiert, dass die Welt grösser sei als nur ihr Haus. «Wir fahren heute schon Busse und Metro-Züge. Die Regierung sollte noch mehr Möglichkeiten für Frauen schaffen.»