22 Jahre jung war Madhumita Pandey, als sie 2013 für ihre Doktorarbeit zum ersten Mal im Tihar-Gefängnis in Neu-Delhi verurteilte Vergewaltiger interviewte. Sie ging mit dem Bild von Psychopathen im Kopf ins Gefängnis.
«Doch ich fand gewöhnliche Männer – Männer, welche die Gesellschaft hervorbrachte.» Pandey meint, was sie sagt. Etliche gesellschaftliche Normen in Indien verharmlosen Vergewaltigungen und deren Konsequenzen. So zeigten die meisten Männer, die sie befragte, kaum Reue.
Indien sei vielerorts eine stark patriarchale Gesellschaft, in der Frauen in praktisch allen Belangen selten oder nie gefragt werden: «Warum sollten sie es in diesem Falle?», fragt Pandey.
Für Pandey sind nicht diese Männer per se das Problem, sondern die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind. Sie richtet den Fokus auf die vielen Probleme im Land: Armut und Arbeitslosigkeit, das schlechte öffentliche Bildungswesen, die Landflucht, das Kastenwesen.
Auch die Frau, die letzten Monat in Uttar Pradesh vergewaltigt wurde, stammte aus einer tiefen Kaste, die mutmasslichen Täter aus einer höheren: «Die allermeisten Frauen, die in Indien vergewaltigt werden, stammen aus tiefen Kasten», sagt Pandey.
Männer von einer höheren Kaste seien ihnen gegenüber doppelt privilegiert und nutzten diese Privilegien aus. Sie könnten das auch, da sich oft die Familien aus tieferen Kasten davor scheuen, Klage einzureichen. Wenn doch, dann nehme sie die Polizei nicht ernst. Wie im Fall der Frau aus Uttar Pradesh.
Man muss nicht erstaunt sein, dass Vergewaltigungen so regelmässig passieren.
Das mache diese Frauen besonders gefährdet, sagt die Kriminologin, die heute in London unterrichtet: «Die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen führen oft zu Vergewaltigungen. Die Frauen sind die Hauptleidtragenden.»
Doch auch Männer litten darunter, sagt Pandey: In einer solchen Gesellschaft müssten sie ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, um nicht als Weichling dazustehen. Das schaffe eine toxische Vorstellung von Männlichkeit, die Pandey oft bei ihren Interview-Partnern feststellte. Viele der Täter sahen sich durch ihr Opfer, ihre Familie oder Freunde gedemütigt.
Alltägliche Übergriffe
Dieses über-machoide Verständnis von Männlichkeit führe zunehmend zu Konflikten, besonders in einer Zeit, in der sich das Bild der Frauen enorm gewandelt hat. Inderinnen sind heute Professorinnen, CEOs, fahren Autos und Motorräder, gerade in den Städten haben sie nicht mehr ihren «gewohnten Platz am Herd».
Auch im alltäglichen Umgang seien diese Verhaltensmuster zu erkennen. Eine gar lockere Hand in der Metro, die kurz über den Rock streift; vieldeutige Gesten und Blicke im Bus; jede Frau in Indien hat Erfahrungen damit gemacht. Selten werden die Männer zur Rechenschaft gezogen. «Die Schuld wird bei der Frau gesucht», sagt Pandey.
«Ich musste ihr eine Lektion erteilen»
Das würden auch viele Eltern ihren Töchtern sagen: «Wechsle den Platz, wenn dich jemand belästigt, oder nimm besser ein Taxi, geh nicht raus in der Nacht.» Fast nie werde aber das Verhalten der Männer hinterfragt. Die indische Gesellschaft habe solche Verhaltensmuster normalisiert, sagt Pandey: «Man muss nicht erstaunt sein, dass Vergewaltigungen so regelmässig passieren.»
Es sind just diese Normalisierungen, welche die Häftlinge in den Gefängnissen als Rechtfertigung ihrer Tat dienen. «Ich musste ihr eine Lektion erteilen.» Eine der vielen Antworten, die Pandey während ihren Interviews erhielt.