Die EU leitet gegen Ungarn ein Artikel-7-Verfahren ein. Was das für Ungarn und seinen Präsidenten Viktor Orban bedeutet, sagt Meret Baumann, Korrespondentin der NZZ.
SRF News: Wie sind die ersten Reaktionen aus Ungarn?
Meret Baumann: Die Reaktion hat die ungarische Regierung und Ministerpräsident Orban bei seinem sehr aggressiven, fast kompromisslosen Auftritt gestern im EU-Parlament schon vorweggenommen. Er hat gesagt, dass Ungarn für seine Flüchtlingspolitik bestraft werde und dass es eine Rache der Europäischen Union sei, weil Ungarn sich weigere, ein Einwanderungsland zu werden und Flüchtlinge aufzunehmen.
Er gab sich kämpferisch und zornig. Wie kommt diese Rhetorik bei den Ungarinnen und Ungarn an?
Das kommt gut an, es ist der politische Stil von Viktor Orban seit vielen Jahren. Er braucht immer einen Feind, damit sein konfrontativer Politikstil funktioniert. Man muss natürlich sagen, wenn es um die Migrationspolitik geht, hat Viktor Orban eine überdeutliche Mehrheit hinter sich.
Ungarn schützt Polen vor einem Urteil und Polen wiederum wird Ungarn schützen.
Die Bevölkerung teilt die Ansicht, dass Ungarn keine Flüchtlinge aufnehmen soll. Wenn er es so darstellt, dass die EU Ungarn für diese Politik bestraft, dann stösst das sicher auf Zustimmung.
Wird die Einleitung des Verfahrens die EU-Kritiker in Ungarn und auch Orban stärken?
Das ist eine heikle Frage. Es ist auf europapolitischer Ebene so, dass die Mitgliedschaft in der mächtigen EVP für die Regierungspartei Fides schon wichtig war. Sie hatte so mehr Einfluss auf europapolitischer Ebene, als wenn die EVP sie wirklich fallen lässt und mittelfristig ausschliesst. Aber innenpolitisch denke ich, dass es ein Geschenk für Orban ist, weil er sich als Opfer stilisieren kann und das vor allem im Hinblick auf die EU-Wahl im nächsten Jahr. Er sagt schon lange, diese Wahl werde quasi ein Referendum über die Migrationspolitik. Er wird das innenpolitisch ausschlachten.
Viktor Orban sagte auch, sein Land werde wegen seiner konservativen und christlichen Politik bestraft. Das sei sein einziges Vergehen. Hat die EU tatsächlich ein falsches Bild von Ungarn?
Nein, das würde ich nicht sagen. Orban macht eine konservative Politik, was legitim ist. Er wurde mit klarer Mehrheit gewählt. Bei diesem Report, über den ja heute faktisch abgestimmt wurde und in dem empfohlen wurde, dieses Verfahren einzuleiten, ging es um sehr umstrittene Reformen der letzten acht Jahre. Die Migrationspolitik hat in diesem Bericht nur einen sehr kleinen Teil eingenommen. Es geht vor allem um Reformen im Justizbereich, um Reformen in der Medienpolitik, um die stark eingeschränkte Medienvielfalt. Es geht auch um das drastische Vorgehen gegen Nichtregierungsorganisationen, das in Europa beispiellos ist. Das waren die Kritikpunkte seitens Brüssels und die sind meines Erachtens sehr legitim.
Nun wird dieses Verfahren eingeleitet. Was kann es bewirken?
Die Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Das sieht man auch an dem Verfahren, das es gegen Polen gibt. Es wurde im vergangenen Dezember eingeleitet.
Die Aussetzung der Stimmrechts ist nicht realistisch. (...) Solche Sanktionen können nur einstimmig von den EU-Mitgliedstaaten beschlossen werden.
Davor gab es über zwei Jahre lang ein Dialogverfahren mit Polen, das nichts gebracht hat. Auch die Einleitung des Artikel-7-Verfahrens hat keine Kompromissbereitschaft der polnischen Regierung bewirkt. Die drastischen Sanktionen, zum Beispiel eine Aussetzung des Stimmrechts, ist nicht realistisch, weil Ungarn Polen vor einem Urteil schützt und Polen wiederum wird Ungarn schützen. Solche Sanktionen können nur einstimmig von den EU-Mitgliedstaaten beschlossen werden. Insofern glaube ich, dass die Auswirkungen beschränkt sind.
Das Gespräch führte Simone Hulliger