Diese Woche wurden erneut mehrere hundert Personen in der Türkei festgenommen. Darunter Angehörige der Luftwaffe, der Marine und der Küstenwache. Und dies, obwohl Präsident Recep Tayyip Erdogan letzten Sonntag einen Wahlsieg verbuchen und seine Macht weiter festigen konnte. Thomas Seibert, Journalist in Istanbul, erklärt die Gründe für die Festnahmen.
SRF News: Die türkische Polizei soll in einer landesweiten Aktion allein am Dienstag über 130 Leute festgenommen haben. Erstaunt Sie das?
Nein, es erstaunt mich nicht. Es ist keine grosse Überraschung: Präsident Erdogan macht einfach da weiter, wo er vor der Wahl aufgehört hat.
Weshalb hört er nicht auf? Er hat doch jetzt erreicht, was er wollte?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Der aktuelle Grund ist das Trauma des Putschversuchs vor zwei Jahren. Erdogan und seine Leute haben damals erlebt, dass sie gestürzt werden sollten. Nun soll die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen aus dem Staatsapparat entfernt werden. Das ist eine Aktion, die immer weiter läuft, und die zum Teil auf sehr fragwürdigen Beweisen basiert.
Manchmal genügt ein einziges Wort eines Journalisten oder eines Aktivisten, um ins Gefängnis zu kommen.
Der tieferliegende Grund dahinter ist aber, dass Erdogan sich selbst während seiner ganzen Karriere stets in einer Opferrolle gesehen hat. Er fühlt sich von Feinden, von Gegnern, umringt und reagiert entsprechend.
Erdogan hat seit seinem Wahlsieg und dem Wechsel zum Präsidialsystem noch mehr Macht. Will er mit diesen Verhaftungen ein Zeichen setzen?
Ich glaube nicht, dass die Verhaftungen von dieser Woche ein gewolltes, politisches Zeichen sind. Diese Verhaftungen waren schon vor der Wahl klar und wurden jetzt erst – nach der Wahl – vollzogen. Das ist eine kontinuierliche Bewegung, die auch in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird.
Kritiker werfen Erdogan vor, den Putschversuch zu nutzen, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Hat das was?
Das kann man so sagen. Es wurden viele Journalisten ins Gefängnis gesteckt, viele Medien verboten. Das Ganze grenzt schon ein wenig an Paranoia, denn die Vorwürfe gegen die Beschuldigten sind teilweise ziemlich absurd.
Also wer gegenüber Erdogan kritisch ist, wird ins Gefängnis gesteckt?
Nein, das auch wieder nicht. Es gibt natürlich nach wie vor eine Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit. Nur herrscht eine gewisse Willkür im Umgang mit dieser Diskussion. Manchmal genügt ein einziges Wort eines Journalisten oder eines Aktivisten, um ins Gefängnis zu kommen. Die Kriterien kennt niemand.
Am Mittwoch hat ein Gericht die Entlassung des regimekritischen Journalisten Mehmet Altan angeordnet. Wie passt das zusammen?
Im Fall Altan gibt es zwei Aspekte, die man beachten sollte. Es gibt einerseits einen gewissen Konkurrenzkampf innerhalb der türkischen Justiz. Das türkische Verfassungsgericht hatte schon vor Monaten die Freilassung von Altan angeordnet. Die untergeordneten Gerichte haben das aber verweigert.
Erdogan umgibt sich immer mehr mit der eigenen Familie statt mit Beratern oder Politikern von aussen.
Jetzt hat ein Berufungsgericht entschieden, Altan müsse freigelassen werden. Der zweite Aspekt ist nach aussen gerichtet. Die Türkei ist Mitglied im Europarat und damit an Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Strassburg gebunden. Altan und andere Beschuldigte haben sich an die Strassburger Richter gewandt. Die Türkei versucht mit seiner Freilassung zu signalisieren, dass sie nicht alle Brücken nach Europa abbrechen will. Eine gewisse Kontrolle durch Strassburg ist hier also nach wie vor gegeben.
Einerseits ein Signal nach Europa aussenden, andererseits die Leute wieder zu Hunderten ins Gefängnis stecken. Das passt doch nicht zusammen?
Das ist richtig. Das hängt vor allen Dingen mit diesem Gefühl der Bedrohung zusammen, das die Regierung hier hat. Erdogan und seine Leute fühlen sich sehr unsicher. Man sieht das auch an anderen Aspekten – zum Beispiel daran, dass sich Erdogan immer mehr mit der eigenen Familie umgibt statt mit Beratern oder Politikern von aussen. Erdogan hat immer weniger das Gefühl, jemandem vertrauen zu können. Der Politiker, dem autokratische Tendenzen nachgesagt werden, fühlt sich im In- und Ausland von Feinden umringt.
Das Gespräch führte Roger Aebli.