Mit der Wiederwahl von Recep Tayyip Erdogan wird in der Türkei das Präsidialsystem eingeführt. Erdogan ist jetzt Staats- und Regierungschef in einem, kann Minister ernennen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und Verfassungsrichter bestimmen. Die Journalistin und Autorin Cigdem Akyol blickt pessimistisch auf die neue Machtfülle.
SRF: Ist dieser Sieg die Krönung von Erdogans Karriere?
Cigdem Akyol: Ja. Er hat während Jahrzehnten genau auf diesen einen Moment hingearbeitet. Das hat er jetzt bekommen. Schon immer hat er in Interviews erklärt, dass ein Präsidialsystem für die Türkei doch ganz sinnvoll wäre. Natürlich hat er dabei an sich gedacht.
Warum will das Volk ihm diese Machtfülle geben?
Es wird in der deutschsprachigen Berichterstattung immer wieder übersehen, wie viele Millionen Menschen in der Türkei und auch ausserhalb des Landes Erdogan noch immer verehren – trotz der prekären Zustände im Land. Ihm wird zugetraut, als Landesvater und starker Führer die Türkei aus den wirtschaftlichen und aussenpolitischen Problemen herausmanövrieren zu können. Probleme, die er ja eigentlich selber zu verantworten hat.
Erdogan wurde zudem vor allem in den ländlichen Regionen Anatoliens gewählt, wo er einen starken Rückhalt hat. Der Blick der Medien richtet sich aber viel zu oft auf die Städte, wo sein Rückhalt in den letzten Jahren immer mehr gebröckelt ist.
Fühlt sich Erdogan jetzt sicherer und lässt etwas mehr Opposition zu?
Es ist nicht davon auszugehen, dass Erdogan nach dem Sieg milder wird. Denn er ist höchst misstrauisch. Es könnte also sehr gut sein, dass die seit dem vor zwei Jahren vereitelten Putschversuch eingeleitete Säuberungswelle weitergeht und die Unterdrückung zunimmt. Dazu kommen wirtschaftliche Probleme. Die Lira zerfällt im Sekundentakt und auch da wird es weiter bergab gehen. Erdogan wird sich immer weiter beweisen müssen, etwa in den Kommunalwahlen im nächsten Jahr. Und er wird dies vor allem mit Unterdrückung tun.
Wird sich die Stimmung mit dem Wohlstandsverlust ändern?
Die Stimmung hat sich bereits verändert, wie die Gewinne der Opposition zeigen. Das reicht aber nicht aus, um Erdogan zu stürzen, denn ihm wird immer noch am meisten zugetraut. Man darf nicht unterschätzen, dass er auch die meisten Medien kontrolliert. Viele bekommen damit nur eine verzerrte Version der Realität zu sehen. Mit dem Präsidialsystem kann Erdogan bis auf weiteres schalten und walten wie er will. Ich wüsste niemanden, der Erdogan aufhalten könnte.
Wie soll die EU mit dem noch mächtigeren Erdogan umgehen?
Es ist wichtig für die EU, dass sie mit Erdogan im Dialog bleibt, auch aus eigenen Interessen. Niemand will, dass die Türkei als wichtige Akteurin in der Region noch instabiler wird. Es ist aber auch wichtig, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufrechtzuerhalten, um der Opposition Signale zu schicken. Denn es gibt Millionen von Menschen, die unter der AKP-Regierung mit Erdogan leiden und die nicht alleine gelassen werden wollen.
Wie verändert sich der Alltag in der Türkei nach der Wahl?
Der Alltag wird sich nicht sichtbar verändern. Man kann in der Türkei immer noch weitgehend normal leben, wenn man sich nicht politisch engagiert und äussert. Viele Menschen werden überhaupt nicht mitbekommen, dass es da einen Wechsel zum Präsidialsystem gab und was diese Wahlen eigentlich ausgelöst haben. Wer sich aber gegen Erdogan stellt, wird noch viel stärker leiden müssen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.