Die syrische Armee kämpft in der Provinz Idlib derzeit mit aller Härte gegen die Rebellen. Dabei wird keine Rücksicht auf Zivilisten genommen. Laut der UNO ist fast eine Million Menschen vor diesen Kämpfen auf der Flucht – zusätzlich zu den bereits zuvor vertriebenen Hunderttausenden Syrern. Ihre Lage sei entsetzlich, sagt die Journalistin Petra Ramsauer.
SRF News: Unter welchen Umständen leben die Hunderttausenden Flüchtlinge im Norden von Idlib?
Petra Ramsauer: Die meisten von ihnen sind in Vertriebenenlagern, die jetzt total voll sind. Doch für bis zu 100'000 Menschen hat es dort keinen Platz mehr, sie müssen unter freiem Himmel übernachten – und das bei Temperaturen von teils unter null Grad. Sie leben unter schrecklichen Bedingungen, manche ohne jegliche Versorgung.
Was erzählen Ihnen die Menschen, zu denen Sie vor Ort Kontakt haben?
Was sie Tag und Nacht beschäftigt, ist die Frage, wohin sie jetzt noch fliehen können. Die Assad-Truppen dringen mit Luftunterstützung der Russen immer tiefer in die Provinz Idlib ein. Doch die Menschen wollen nicht in einem von Assad-Truppen beherrschten Gebiet bleiben.
Die Menschen sind fast völlig von den Kriegsfronten und der abgeriegelten türkischen Grenze eingeschlossen.
Viele versuchen jetzt, über einen schmalen, noch von den Rebellen gehaltenen Landstreifen westlich von Aleppo weiter in den Norden zu gelangen. Doch wegen ständiger Luftangriffe ist das sehr schwierig und gefährlich. Die Menschen sind fast völlig von den Kriegsfronten und der abgeriegelten türkischen Grenze im Norden eingeschlossen.
Was geschieht mit den Menschen an der hermetisch abgeriegelten türkischen Grenze?
Manche versuchen, mithilfe von Schmugglern in die Türkei zu gelangen. Doch die Preise dafür haben sich in den letzten zwei Wochen von 300 auf 2000 Dollar vervielfacht. Das ist für die allermeisten unbezahlbar. Als allerletzten Ausweg sehen manche jetzt bloss noch, die Grenze gemeinsam zu stürmen – denn wer einzeln oder in kleinen Gruppen versucht, in die Türkei zu gelangen, muss damit rechnen, erschossen zu werden.
Gibt es für die Menschen auf der Flucht keine Alternative zur Türkei?
Nein. An der Grenze befinden sich inzwischen gigantische Vertriebenenlager. Schon bevor die syrische Offensive auf Idlib begann, befand sich dort rund eine Million Menschen in Lagern. Jetzt kommt eine weitere Million Vertriebener dazu.
Auf den Strassen gibt es kein Weiterkommen.
Es ist hügeliges Gebiet, vielerorts liegt etwas Schnee. Viele Menschen haben keine Zelte, sie schlafen unter Bäumen. Manche versuchen, weiter nordöstlich nach Afrin zu gelangen, das von türkisch gestützten Milizen gehalten wird. Doch auf der Strasse gibt es kein Weiterkommen, es ist ein gigantischer Stau an Menschen. Manche kauern in Höhlen, andere in Abbruchhäusern. Die Lage der Menschen ist verzweifelt, es gibt auch kaum Zugang für Hilfsorganisationen.
Kommt überhaupt noch humanitäre Hilfe bei den betroffenen Menschen an?
Bislang gelingt es, wenigstens Lebensmittelhilfe sicherzustellen. Meist kommt diese von der UNO über die Grenze aus der Türkei nach Idlib und wird dort von syrischen Hilfsorganisationsmitarbeitern verteilt. Doch inzwischen sind viele Helfer selber geflohen, deshalb wird es immer schwieriger, die Güter zu verteilen. Zudem werden laufend Spitäler beschossen, was die medizinische Hilfe massiv erschwert. Hilfslieferungen allein können also wenig bewirken, was es braucht, ist eine sofortige Waffenruhe.
Das Gespräch führte Daniela Püntener.