Es sind die Zeiten der harten Begriffe, der martialischen Sprache. Es ist Krieg. «Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln, ausser über die eigene Unterwerfung», sagt der deutsche Bundeskanzler im Bundestag. Eine klare Adresse auch an jene, die in den letzten Tagen Gespräche zwischen der Ukraine und Russland forderten, Verhandlungen statt Waffenlieferungen und Krieg. Scholz will seinen Kurs weiterführen, das ist die Botschaft.
Ein Kurs, der vor einem Jahr begann, mit der Rede zur Zeitenwende. Wenige Tage nach Kriegsausbruch gelang es Scholz, die ganze Nation mitzureissen, aufzurütteln. Scholz wuchs zum Staatsmann, allseits bewundert.
Scholz innenpolitisch unter Druck
Es folgte die Ankündigung, die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufzurüsten. Ein Ruck ging durch Deutschland. Es schien plötzlich möglich, Verkrustungen zu sprengen, gross zu denken. «Führungsmacht» zu sein. Moralisch, militärisch.
Doch nun, ein Jahr später, hat Scholz, um beim martialischen Bild zu bleiben, auch innenpolitisch die Waffe an der Schläfe. Die Verheerungen des Krieges schleichen sich auch in die eigene Regierung. Offenbaren immense Schwächen des Systems, menschliche Gräben.
Offensichtlich wird der Bruch jeden Tag, wenn sich Finanzminister Lindner und Wirtschafts- und Klimaminister Habeck öffentlich ums Geld streiten, FDP-Maxime Schuldenbremse versus grüne Wahlversprechen. Sich gehässige Brandbriefe schreiben, darin von «bösen Fouls» sprechen. Sich neuerdings wieder siezen, nachdem sie ihr «Du» lange zelebrierten.
Schwächen bei der Bundeswehr
Die oppositionelle CDU spricht bereits vom «Ampel-Rosenkrieg». Die Regierung wird in den nächsten Tagen und Wochen nicht auseinanderbrechen. Aber fröhliche Selfies wie in den Honeymoon-Tagen vor 16 Monaten gibts nicht mehr.
Auch Aussenministerin Annalena Baerbock versucht, Scholz vor sich herzutreiben. Prescht vor, rudert zurück. Scholz, gegen aussen immer loyal, schäumt innerlich. Wer ist hier eigentlich der Chef? Noch eine Front.
Schlimm steht es auch um die Bundeswehr. Die deutsche Armee sei «derzeit nicht verteidigungsfähig», sagte Verteidigungsminister Pistorius diese Woche. Das hängt auch, aber nicht nur, mit den Panzerlieferungen in die Ukraine zusammen. Das Beschaffungssystem ist eine Katastrophe, die Bundeswehr-Strukturen so kompliziert, dass man nicht einmal mit dem besten Dechiffriergerät der Welt verstünde, wer wofür zuständig ist. Es ist, als brächen jahrelange Versäumnisse gleichzeitig auf, eine Welle der Unbilden.
Wahldebakel in Berlin
Der Stress im Kanzleramt ist derart gross, dass eine andere grosse Story fast untergeht: Das Wahldesaster von Berlin. Die dortige regierende SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey hat eine Wahlklatsche sondergleichen erlitten, will nun wohl mit der CDU regieren, aber als Juniorpartnerin.
Die Verzwergung der Kanzlerpartei. Das hat auch Auswirkungen auf Bundes-Berlin, denn in der Länderkammer, dem Bundesrat, ist Scholz auf eine starke Machtbasis angewiesen. Der Verlust der Berliner Stimmen lässt auch Scholz’ Macht bröckeln.
Zeit, um nachzudenken
Gut ist das alles nicht. Von Scholz weiss man, dass er sich die Pistole nicht an den Kopf halten lässt. (Da ist sie trotzdem). Autonomie behalten. Scholz macht das mit sich selber aus, liest zur Entspannung philosophische Bücher. Auch wenn draussen der Krieg tobt, politisch in Berlin, real in der Ukraine.
Am Abend wird Scholz viel Zeit für sich allein haben. Ein bisschen lesen und denken in der Regierungsmaschine. Er fliegt nach Washington zu Präsident Biden. Ganz allein, ohne Pressedelegation, ohne Brimborium. Einziger Programmpunkt in Washington: Zwei Stunden im Oval Office mit Biden. Nachdenken zu zweit über ein Jahr Krieg. Und die grosse Frage, wie es weitergehen soll. Wie die Pistole wegkommt von der Schläfe.