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Virtuelles Treffen Demokratie gibt es nicht einfach so

Bidens «Gipfel für Demokratie» hat gezeigt, dass die Demokratie verteidigt oder ständig von neuem erkämpft werden muss.

Eigentlich wollten autoritäre Regimes von China über Moskau bis Riad Joe Bidens Demokratiegipfel einfach ignorieren. «Einen Witz», nannten ihn chinesische Regimevertreter. Und dennoch: Seit Wochen schiessen Peking, Moskau und andere scharf gegen das virtuelle Treffen mehr oder minder lupenreiner Demokraten. Statt wie zunächst geplant nonchalant, reagieren sie empfindlich, ja gar gehässig.

2021 kein gutes Jahr für Demokratie

Was an den Spruch erinnert: Eine gute Party ist daran zu erkennen, dass die nicht Eingeladenen wütend sind. Irgendwie passt es den autoritären Machthabern doch nicht, abseits zu stehen. China dichtete sein eigenes Regierungssystem noch kurz vor Bidens Gipfel um in eine wahre Demokratie. Eine, die wirklich dem Volk verpflichtet sei. Dass die Welt darauf mit Stirnrunzeln oder Sarkasmus reagiert, dürfte Peking nicht gefallen. Offenkundig lehnt Staatschef Xi Jinping zwar die Substanz der Demokratie ab, doch das Etikett hätte er ganz gern.

2021 war kein gutes Jahr für die Demokratie. Von Äthiopien bis Myanmar, vom Sudan bis Tunesien, von der Türkei über Ungarn bis Polen gab es Rückschritte. Statt sich, wie nach dem Ende des Kalten Krieges erhofft, von allein um den Erdball zu verbreiten, steht die Demokratie heute vielerorts auf dem Spiel. Das ist entmutigend. Aber womöglich ist das ablaufende Jahr gerade deshalb der richtige Zeitpunkt für den ersten internationalen Demokratiegipfel.

Demokratieprojekt in den USA fehlt

Zwar haben die USA keinerlei Illusion und Willen mehr, Demokratie irgendwo mit dem Schwert durchzusetzen wie zuvor im Irak oder in Afghanistan. Zumindest Joe Biden hat erkannt, dass die Demokratie auch im eigenen Land gewaltig unter Druck steht und alles andere als perfekt ist.

Inkonsequent war er dann insofern, als er hunderte von Millionen US-Dollar versprach für freien Journalismus, für Menschenrechtsorganisationen, für die Korruptionsbekämpfung – jedoch ausschliesslich im Ausland. Ein Demokratieförderungsprojekt für die USA selber fehlt in seinem Handwerkskasten.

Immerhin prangerten die meisten auf dem Gipfel vertretenen rund hundert Regierungschefs nicht einfach autoritäre Herrscher an. Das wäre so billig wie nutzlos gewesen. Vielmehr gelobten sie, sich zu Hause für demokratische Stärkung und Reformen zu engagieren. In einem Jahr, wenn der Demokratiegipfel wieder stattfinden soll – dannzumal Auge in Auge – wollen und sollen sie, so Biden, Rechenschaft ablegen über Erreichtes und Versäumtes.

So viel Effort hat die Demokratie verdient

All das irritiert die Autokraten dieser Welt zwar ungemein, wie man sieht. Auf den demokratischen Pfad führen, wird es sie nicht. Isolieren lassen sie sich ebenfalls nicht; es sind schlicht zu viele. Und sie werden gar immer mehr.

Trotzdem: Während zahllose Regierungen nun seit eineinhalb Jahrzehnten hauptsächlich zuschauten, wie die Welt immer undemokratischer, immer autoritärer wird, gibt es nun eine Art Schulterschluss gegen diese Negativentwicklung. Es ist Bidens Verdienst, wenigstens zu versuchen, dagegenzuhalten. Soviel Effort hat die Demokratie verdient

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Echo der Zeit, 10.12.2021, 18 Uhr ; 

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