Bis zuletzt machten Vertreter der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Druck. Fast ultimativ forderten sie Joe Biden in den letzten Tagen auf, eine schwarze Frau als Vize-Kandidatin auszuwählen. Ihr Wunsch wurde erhört. Kamala Harris galt seit Wochen als Favoritin. Ihre Ernennung überrascht nicht, und doch ist sie Ausdruck eines historischen Wandels.
Der Tod von George Floyd in Minneapolis und die wochenlangen Proteste machten die Anliegen der Bewegung «Black Lives Matter» weit über das links-progressive Lager hinaus salonfähig. Das brutale Video von Floyds Festnahme öffnete so manchem Weissen die Augen. Plötzlich finden sich auch in Vorgärten in weissen, ländlichen Gegenden der USA viele Schilder der «BLM»-Bewegung.
Angriffslustige Politikerin
Dass nun eine prominente dunkelhäutige Kandidatin neben Joe Biden antritt, ist deshalb eine logische Folge dieser Entwicklung. Und dass er eine Frau wählen wird, hat Biden schon früh klargemacht. Geschlecht und Hautfarbe sind aber nicht die einzigen Gründe für Bidens Entscheidung.
Kamala Harris zeigte sich in den demokratischen Vorwahl-Debatten zumindest phasenweise als angriffslustige, clevere Gegnerin. Und ihr knallharter Befragungsstil in Ausschüssen des Senats hat ihr in Washington viel Respekt verschafft. Mike Pence wird sich für die TV-Debatte der Vize-Kandidaten warm anziehen müssen.
Die «zwei Kamalas»
Das links-progressive Lager der Demokraten hat indessen ein zwiespältiges Verhältnis zu Kamala Harris. Sie präsentiert sich heute als entschiedene Vertreterin der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Doch als Staatsanwältin von Kalifornien agierte sie bisweilen mit harter, eher polizeifreundlicher Hand.
Kritiker werfen ihr vor, ihre öffentliche Meinung jeweils der aktuellen Stimmung anzupassen. Von einer Geschichte der «zwei Kamalas» spricht beispielsweise ein kalifornischer Pflichtverteidiger gegenüber dem Magazin «The New Yorker»: «Sie war Staatsanwältin, als ‹Black Lives Matter› erstmals aufkam. Von ihr kam nur Schweigen.»
Geringes Risiko für Biden
Doch die Partei ist geeinter als vor vier Jahren, ein Ausscheren des linken Lagers unwahrscheinlich. Die Abwahl von Donald Trump ist das gemeinsame Ziel aller Parteiflügel. Kamala Harris mag junge Linke nicht unbedingt euphorisieren, kann der Kampagne des manchmal alt wirkenden Joe Biden aber neuen Schwung verleihen.
Biden liegt in den Umfragen vorne und musste bei der Ernennung keine Risiken eingehen. Die Gefahr, dass die eher gemässigte Harris unentschlossene Wähler in der Mitte vergrault, ist nicht allzu hoch.
Für die Republikaner ist Harris nicht einfach anzugreifen. Eine dezidiert linke Kandidatin wie Elizabeth Warren hätte es den Republikanern eher ermöglicht, das Biden-Team als linksextreme Sozialisten darzustellen. Dramatische Auswirkungen auf den Wahlkampf sind deshalb auf den ersten Blick nicht zu erwarten. So gilt nach wie vor: Die Wahl vom 3. November wird in erster Linie ein Referendum über Donald Trump.