Ada Daza Valle ist pensioniert, doch sie arbeitet weiter – als Kindermädchen. 40 Jahre hat die 61-jährige Brautmoden verkauft. Heute erhält sie eine Rente von rund 150 Franken. «Davon kann man nicht leben und ich bin nicht die einzige, so geht es vielen Rentnern», sagt Daza Valle.
Was, wenn sie irgendwann nicht mehr arbeiten kann? Sie sagte sofort zu, als sie als Protagonistin für einen Fernsehspot angesprochen wurde – in der Kampagne für eine neue Verfassung: «Wir brauchen einen radikalen Wechsel in der Bildung, dem Gesundheitssystem, den Renten.»
Ihr kommen die Tränen, wenn sie an die letzten Monate zurückdenkt. Tausende von Demonstranten wurden verletzt, mehr als 400 an den Augen, teils schwer. «So viele junge Leute, die das Augenlicht verloren haben», sagt Daza Valle. «Und warum? Weil sie erlebt haben, wie ihre Eltern das ganze Leben geschuftet haben – und am Ende ohne etwas dastehen.»
Vor einem Jahr begannen die Proteste und noch immer machen die Demonstranten Druck. Erst letzten Sonntag gingen trotz Pandemie etwa 25'000 Menschen auf die Strasse. Auf ihren Bannern stand «Apruebo», ich bin dafür. Gemeint ist: für eine neue Verfassung.
Die aktuelle Verfassung stammt aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973 bis 1990). In den meisten Umfragen liegt die Zahl der Chilenen, die für eine neue Verfassung stimmen wollen, bei über 70 Prozent, in einigen sogar über 80 Prozent.
Auch die Gegenseite hat in den letzten Wochen versucht, ihre Anhänger auf die Strasse zu bringen, doch es kamen nur wenige hundert. Sie forderten auf «Rechazo» zu stimmen – und eine neue Verfassung abzulehnen.
Gonzalo Correa hat auf seinem Balkon «Rechazo»-Poster aufgehängt. Er ist eines der Gesichter der Kampagne gegen eine neue Verfassung, trat in Fernsehspots auf. Der 34-jährige Wirtschaftsingenieur ist überzeugt: Eine Verfassung von null auf zu schreiben, das dauere zu lange. «Chile hat Probleme, keine Frage», sagt Correa. «Aber: Die Verfassung ist ein Rahmen, der Spielregeln festlegt. Man muss doch nicht gleich das ganze Fussballstadion abreissen und neu bauen, um neue Regeln zu definieren.»
Für die massiven Proteste hat er kein Verständnis: «Die Demonstranten denken, sie können mit Gewalt nötige Veränderungen erreichen. Heute muss Chile sich sowohl von den wie ich sage 'anti-sozialen' Protesten erholen und auch von der Pandemie.»
«Einzigartige Chance»
Verfassungsexpertin Miriam Henríquez Viñas ist überzeugt: Ein neuer Text wäre eine Chance, das Recht auf Bildung, Wohnraum oder würdige Renten stärker zu verankern. «Diese Aspekte können verstärkt Teil einer Verfassung sein, auf detaillierte Art und Weise, mit Garantien, damit sie bei Gericht eingefordert werden können», sagt die Dekanin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad Alberto Hurtado, «wir haben eine einzigartige Chance, die Verfassung zu verändern, aus der Demokratie heraus.»
Abgestimmt wird am Sonntag nicht nur darüber, ob es eine neue Verfassung geben soll, sondern auch darüber, wer sie schreiben soll: Eine verfassungsgebende Versammlung oder ein Konvent, in dem auch die politischen Parteien vertreten sind, die fast ausschliesslich die Interessen der bisherigen Eliten vertreten. Bei den Protestierenden auf der Strasse ist deshalb Misstrauen zu spüren: Ist das Referendum ein politisches Manöver? Oder tatsächlich eine Chance für etwas Neues?
Wegen Corona wurde das Referendum einmal verschoben. Doch für den Sonntag ist nun alles bereit. Ein Ja wäre ein Wendepunkt in der Geschichte Chiles – erreicht durch den Druck der Strasse.