«Undenkbar», «nicht unter meiner Führung»: Noch Anfang Jahr schloss die sozialdemokratische dänische Regierung unter Ministerpräsidentin Mette Frederiksen eine neue Volksabstimmung zur Europäischen Union im nordischen Königreich kategorisch aus. In der Vergangenheit hatten Regierungen unterschiedlichster politischer Ausrichtung wiederholt versucht, das Land näher an die EU heranzuführen: vergeblich. Im Jahr 2000 sagte eine Mehrheit der Däninnen und Dänen Nein zum Euro, 2015 gab es eine Abfuhr an der Abstimmungsurne, sich der gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik anzuschliessen.
Und nun dies: Bei einer Stimmbeteiligung von 65.8 Prozent sagten am Mittwoch 66.9 Prozent der Däninnen und Dänen Ja zum Vorschlag von Regierung und Parlament, den sogenannten Verteidigungsvorbehalt abzuschaffen. Dieser untersagte es Dänemark bislang, sich an friedensfördernden Militärmissionen der EU zu beteiligen oder von der Union initiierte Rüstungsprojekte mitzufinanzieren. Insgesamt 235 Mal mussten dänische Regierungsvertreter in der Vergangenheit bei EU-Verhandlungen den Raum verlassen, wenn in Brüssel sicherheits- und verteidigungspolitische Fragen besprochen wurden.
Volk hat letztes Wort
Dänemark ist ein besonderes EU-Mitglied: Seit dem Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1973 hatten stets die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bei wichtigen Fragen der europäischen Integration das letzte Wort. Und weil es bei Vertragsänderungen in der EU die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten braucht, löste das dänische Volksnein zum Maastrichter Unionsvertrag im Jahr 1992 einen Schub für die direktdemokratischen Volksrechte in der EU aus. Dazu gehörten Referenden in vielen Mitgliedsstaaten und die Einführung des Europäischen Bürgerinitiativrechts.
Um dem Unionsvertrag schliesslich doch zuzustimmen, erhielt Dänemark 1993 eine Reihe von Zugeständnissen. Dazu gehörte neben den Ausnahmebestimmungen für die Unionsbürgerschaft, der gemeinsamen Währung und der Justizpolitik eben auch der Verteidigungsvorbehalt, über den am Mittwoch abgestimmt wurde.
Sicherheit in Europa gestärkt
Es war die 64. Volksabstimmung in einem europäischen Land zu einem europäischen Thema. Neun davon fanden in Dänemark statt. Und noch nie war der Anteil jener Däninnen und Dänen, welche für mehr Europa stimmten, so hoch wie am 1. Juni 2022. Der Grund dafür heisst Putin. Der russische Präsident hat mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine nach Finnland und Schweden, welche beide der Nato beitreten wollen, auch Dänemark wachgerüttelt. Dieses gehörte im Unterschied zu den beiden bisher die Neutralität hochhaltenden skandinavischen Nachbarn bereits 1949 zu den Mitbegründern der Nato, weil es – als damals neutraler Staat – im Zweiten Weltkrieg von Nazideutschland angegriffen und besetzt worden war.
Der historische Volksentscheid schafft die Voraussetzungen für eine einheitliche Sicherheitsarchitektur im Ostseeraum, denn bald werden sämtliche Anrainerstaaten (mit der Ausnahme Russlands) sowohl EU und Nato angehören – ohne Vorbehalte. Das stärkt die Sicherheit in ganz Europa. Das dänische Vorgehen macht zudem deutlich, dass sich direktdemokratische Volksrechte und eine enge Zusammenarbeit in Europa nicht beissen müssen, so wie dies nach dem umstrittenen Brexit-Entscheid in Grossbritannien wiederholt behauptet worden ist.