Die Wut war riesig im November 2023. Der gewaltsame Tod der 22-jährigen Giulia Cecchettin durch ihren gleichaltrigen Ex-Freund schüttelte Italien durch. Opfer und Täter waren beide sehr jung, studierten. Und der Täter stammte aus einer intakten Familie. Hunderttausende von Menschen gingen im ganzen Land auf die Strasse, um ihrer Wut Luft zu machen und um gegen Gewalt an Frauen zu protestieren.
Der Schock im Land sei enorm gewesen, sagt Elisa Ercoli, Präsidentin von «Differenza Donna»: «Viele dachten, dass Gewalt etwas Entferntes sei, das nur jene betreffe, die soziale Probleme haben. Dann haben sie verstanden, dass Gewalt in unseren Häusern, unseren Universitäten, an unseren Arbeitsplätzen zu finden ist.»
«Differenza Donna» ist eine Organisation, die sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt und die nationale Hilfs-Hotline «1522» für betroffene Frauen betreut. Dass der Femizid an Cecchettin eine so grosse Welle der Entrüstung losgetreten habe, habe auch damit zu tun, dass sich viele Menschen im Land mit Cecchettin identifiziert hätten. Sie sei für viele wie eine Art Schwester gewesen, erklärt Ercoli. Zudem hätten der Vater und die Schwester von Cecchettin sich nach dem gewaltsamen Tod stark dafür eingesetzt, dass dieser Femizid nicht vergessen gehe, dass er die ganze Gesellschaft etwas angehe.
Mehr Hilfe angefragt
Der Femizid an Giulia Cecchettin hat in Italien einiges ins Rollen gebracht. Es gebe mehr Geld für Anti-Gewalt-Zentren, sagt Ercoli, und mehr Frauen würden sich Hilfe holen. Vor dem Femizid an Cecchettin hätten sie bei der Hilfs-Hotline im Schnitt 5000 Anrufe pro Monat gehabt, nach dem Dezember 2023 seien es plötzlich 13'000 Kontakte gewesen. Bis heute würden sie einen Anstieg von 125 Prozent an Kontakten verzeichnen. «Das bedeutet also, dass der Frauenmord an Giulia Cecchettin dem Phänomen einen unglaublichen Aufschub gegeben hat», sagt Ercoli.
Gewalt ist in Italien lange normal gewesen.
Trotzdem, auch gut ein Jahr nach dem Femizid an Cecchettin wird in Italien im Schnitt alle drei Tage eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners umgebracht. Und das Land diskutiert seither, wie patriarchalisch die Gesellschaft in Italien immer noch sei.
Gewalt lange als normal angeschaut
Gewalt sei in Italien lange normal gewesen und das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen sogar gesetzlich geregelt, erklärt Ercoli. «Bis 1975 hatten wir Frauen in Italien keine Rechte über unsere Kinder, und unser Mann konnte uns per Gesetz körperlich massregeln. Gewalt und Misshandlung in der Familie waren also geregelt. Bis 1981 waren Ehrenmord und Wiedergutmachungsehe normalisiert. Sowohl Frauenmord als auch Vergewaltigung waren also gebilligt.»
Auch wenn der Femizid an Giulia Cecchettin Veränderungen gebracht habe, es brauche Kampagnen und vor allem Prävention, um Stereotypen und Vorurteile als Gesellschaft zu überwinden, sagt Ercoli.
Am 23. September beginnt der Prozess gegen den geständigen Ex-Freund von Giulia Cecchettin. Das Urteil wird wegweisend sein, wie Italien mit Femiziden umgehen will.