In einem Monat wird in der türkischen Millionenmetropole Istanbul die Bürgermeisterwahl wiederholt – auf Drängen der Partei von Präsident Erdogan. Nun holt die Staatsanwaltschaft zum nächsten Schlag aus. Sie hat Anklage gegen eine prominente Politikerin der Oppositionspartei CHP erhoben.
Besonders brisant: Canan Kaftancioglu ist als CHP-Chefin von Istanbul eine wichtige Unterstützerin ihres Parteikollegen Ekrem Imamoglu, der Ende März zum Bürgermeister von Istanbul gewählt worden war.
Dass eine Oppositionelle im derzeitigen politischen Klima in der Türkei angeklagt wird, überrascht den Journalisten Thomas Seibert nicht. «Überraschend ist allerdings der Zeitpunkt: ein Monat vor der Wahl. Das weckt den Verdacht, dass eine sehr fähige Politikerin kaltgestellt werden soll.»
Einer der Kläger ist auch der Präsident selbst. Ein bekanntes Muster, das vor allem symbolischen Wert habe, so Seibert. Erdogan zeige sich damit persönlich betroffen von vermeintlichen Beleidigungen: «Praktisch führt das dazu, dass der Druck auf die Gerichte, die Angeklagte zu verurteilen, weiter steigt.»
Mit der populären Ärztin steht eine Schlüsselfigur der Opposition am Pranger. «Kaftancioglu gilt als Architektin des Wahlsieges ihres Parteikollegen», so Seibert. Sie habe die sonst recht schwerfällige CHP auf Vordermann gebracht. Die Anklage könne durchaus als Drohgebärde von Präsident Erdogan und seiner AKP zu Beginn des Wahlkampfs in Istanbul verstanden werden.
Die Anklage wird die Entschlossenheit der Opposition weiter erhöhen.
Doch ist die Taktik des Präsidenten wirklich so durchsichtig? Will er seinen Kandidaten für den wichtigen Posten in der Wirtschaftsmetropole Istanbul irgendwie über die Ziellinie bringen, egal mit welchen Mitteln? «Das sagen auf jeden Fall die Kritiker der Regierung in der Türkei», so der deutsche Journalist.
Schuss könnte nach hinten losgehen
Für Seibert steht jetzt schon fest: Sollte die AKP in Istanbul erneut verlieren, wäre das ein schwerer Schlag für Erdogan. Deswegen hätten seine Kritiker auch damit gerechnet, dass der Präsident nun mit besonders harten Bandagen kämpfe. Seibert glaubt allerdings nicht, dass sich die Opposition von der Anklage einschüchtern lässt. Im Gegenteil: «Es wird ihre Entschlossenheit weiter erhöhen.»
Die AKP habe aber noch ein ganz anderes Problem. Sie schaffe es derzeit nicht, ihre eigenen Wähler zu mobilisieren: «Auch in den eigenen Reihen gibt es einen grossen Unmut darüber, die Wahl in Istanbul wiederholen zulassen.» Mit Anklagen gegen Oppositionelle lasse sich das Problem kaum lösen, schliesst Seibert.