Heute beginnt in Portugal der Wahlkampf für die vorgezogenen Parlamentswahlen Ende Januar. Als Favorit gilt der amtierende Ministerpräsident António Costa von der Sozialistischen Partei, der mit seiner Minderheitsregierung jüngst den Haushaltplan im Parlament nicht durchbrachte. Seine Hoffnungen auf eine absolute Mehrheit seien zu relativieren, sagt der Journalist Tilo Wagner.
SRF News: Warum ist Costa von der sozialdemokratischen sozialistischen Partei bei den Neuwahlen der Favorit?
Tilo Wagner: Vor allem, weil Portugal relativ gut durch die Pandemie gekommen ist. Vor einem Jahr gab es zwar eine Krise mit vielen Toten. Seither machte das Land mit einer erfolgreichen Impfkampagne sogar international positive Schlagzeilen. Davon profitierte auch die Wirtschaft, da es ab Mitte 2021 kaum mehr Beschränkungen brauchte.
Costa will jetzt die absolute Mehrheit im Parlament, ist das realistisch?
Costa argumentiert, dass das Land mit einer absoluten Mehrheit politisch stabiler werde. Das ist auch ein Seitenhieb gegen die kleineren Linksparteien. Sie stützten zwar sein Minderheitsregierung sechs Jahre lang, machten dann aber bei der Haushalt-Abstimmung vor zwei Monaten nicht mehr mit. Die Sozialisten hatten allerdings in der fast 50-jährigen Geschichte der portugiesischen Demokratie nur einmal eine absolute Mehrheit. So ist es wahrscheinlicher, dass es auch diesmal nicht reicht.
Was wären mögliche Partner einer erneuten Minderheitsregierung mit Costa?
Am liebsten wäre Costa wohl ein loses Bündnis mit einer Natur- und Tierschutzpartei sowie einer anderen gemässigten Linkspartei. Wenn das nicht reicht, könnte er wieder auf die Unterstützung des Linksblocks oder der Kommunisten setzen. Oder er nähert sich der grössten Oppositionspartei, der Mitte-Rechts-Partei PSD (Partido Social Democrata), an. Diese will bei einer Niederlage mit den Sozialisten Gespräche führen. In beiden Fällen gäbe es wohl keine Regierungskoalitionen, weil das in Portugal nicht Tradition hat.
Welche Rolle spielen die starken Polparteien bei den Neuwahlen?
Im linken Lager sind die Verhältnisse relativ stabil. Rechts gibt es Bewegung. Die rechtspopulistische Partei Chega macht wohl deutlich mehr Sitze und kommt wahrscheinlich auf fünf bis acht Prozent. Auch die neue liberale Partei IL (Iniciativa Liberal) kann auf Zugewinne hoffen. Die rechtskonservative Partei CDS hingegen muss bangen, noch ins Parlament zu kommen.
Was sind die zentralen Themen des Wahlkampfs?
Ganz oben steht das Thema Gesundheit. Unabhängig von der Pandemie gibt es strukturelle Probleme in Gesundheitssektor. Das Gesundheitssystem war in den Jahrzehnten unterfinanziert. Pflegefachpersonal und Ärzteschaft sind unzufrieden. Die Wirtschaft ihrerseits fragt sich, wie Portugal mittelfristig wachsen kann, denn sie schnitt in den letzten 20 Jahren im Vergleich zu verschiedenen osteuropäischen Staaten bescheiden ab. Nun stellt sich die Frage, wie sich das Land – auch mit den Milliarden aus dem EU-Corona-Hilfspaket – rüsten kann.
Was heisst das für die politische Stabilität in Portugal, wenn Costa erneut eine Minderheitsregierung anführt?
Nichts Gutes, schätze ich. Denn er kann sich nicht auf feste Koalitionsverträge stützen. Allerdings zauberte Costa schon vor sechs Jahren ein loses Linksbündnis aus dem Hut und schuf damit Stabilität. Er ist kein grandioser Wahlkämpfer, aber ein sehr geschickter Verhandlungspartner. So wird man sich wohl überraschen lassen müssen, was Ende Januar passiert.
Das Gespräch führte Claudia Weber.