Ein palästinensischer Staat scheint derzeit in weiter Ferne: Die Kämpfe in Gaza dauern an, im Westjordanland schreitet die Landnahme fort und in Israel wollen Rechtsextreme alle Palästinenser vertreiben. Auf der diplomatischen Ebene steigt die Zahl der europäischen Länder jedoch, die einen Staat Palästina anerkennen – zuletzt hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen solchen Schritt in Aussicht gestellt. Nahost-Expertin Muriel Asseburg ordnet diese Entwicklungen ein.
SRF News: Was bezweckt Emmanuel Macron mit seinem jüngsten Vorstoss, den Netanjahu als «realitätsfremde Illusion» bezeichnete?
Muriel Asseburg: Es ist vor allem ein Gegenmodell zu dem, was Israel gerade im Gazastreifen versucht umzusetzen. Und zur Idee der Trump-Administration, in Gaza eine Riviera des Nahen Ostens zu entwickeln und dabei die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben. Es ist ein Ansatz, der eine politische Regelung der Palästinafrage in den Vordergrund rückt.
Erklärt das auch den Zeitpunkt des Vorstosses – jetzt, wo die Situation so verfahren ist?
Absolut. Frankreich, Deutschland, Italien, Grossbritannien haben sich ja hinter den arabischen Plan für einen Wiederaufbau des Gazastreifens gestellt. Die Frage ist: Wie bringt man den zur Umsetzung und bewegt sich von einem Waffenstillstand über Wiederaufbau hin zu einer politischen Regelung.
Ist die Anerkennung eines palästinensischen Staates denn ein sinnvoller Schritt auf diesem Weg?
Ich erachte den Schritt als sinnvoll, weil er klarmacht, dass es um das Recht auf Selbstbestimmung beider Völker geht. Er unterstreicht zudem, was das IGH-Gutachten bereits im Juli letzten Jahres forderte: nämlich dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete von 1967 so schnell wie möglich beendet werden muss.
Bislang hatte Israel letztlich immer ein Vetorecht über das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung.
Kritische Stimmen sagen aber, dass ein palästinensischer Staat durch Verhandlungen geschaffen werden müsse und nicht durch die Anerkennung einzelner Länder. Was sagen Sie dazu?
Letztlich müssen natürlich Israel und dieser Staat miteinander verhandeln. Bislang war es aber so, dass letztlich Israel immer ein Vetorecht hatte über das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung.
Man kann nicht von einem souveränen Nationalstaat sprechen – aber von einem staatlichen Gebilde unter Besatzung.
Inwiefern würde Palästina überhaupt die Kriterien eines souveränen Nationalstaats erfüllen?
Grundsätzlich tut es das. Es gibt ein palästinensisches Volk, es gibt ein Territorium, und es gibt eine Führung, die allerdings keine effektive Herrschaft über dieses Gebiet ausübt, weil das Gebiet besetzt ist und die palästinensische Führung gespalten ist. Man kann darum nicht von einem souveränen Nationalstaat sprechen – aber von einem staatlichen Gebilde unter Besatzung.
Die palästinensische Autonomiebehörde gilt als korrupt. Was müsste sich ändern?
Es braucht eine Strukturreform, die die Wurzeln des Problems angeht. Das würde bedeuten, dass man wieder ein System mit einer Gewaltenteilung etabliert, in dem ein Parlament agieren und die Regierung kontrollieren kann und in dem es regelmässige Wahlen gibt, durch die die Regierung auch zur Verantwortung gezogen werden kann.
Ist das Pochen auf eine Zweistaatenlösung nicht längst nur noch eine leere diplomatische Floskel?
Es ist klar, dass Netanjahu das als Illusion bezeichnen möchte. Denn seine Regierung erhebt ja Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordanfluss. Und dennoch denke ich, ist es die einzige Möglichkeit, die auch nur einigermassen realistisch ist, um nachhaltig eine Konfliktregelung und einen Weg aus der Gewalt aufzuzeigen.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.