Am Ende des Palästinakrieges, 1949, sassen die Kriegsparteien zusammen und zeichneten – in grüner Tinte – eine Waffenstillstandslinie ein: zwischen Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen.
Eine Reise entlang der «grünen Linie» heute zeigt jedoch: Eine solche Lösung wirkt utopisch. Geografisch und psychisch.
Westjordanland: Mauern, Stacheldraht und Checkpoints
Wer die grüne Linie sucht, fährt am besten zu George Rishmawi. Das ist allerdings einfacher gesagt als getan. Der palästinensische Wanderführer wohnt nämlich in Beit Sahur bei Bethlehem. Also auf der Seite der grünen Linie, die als Teil eines Palästinenserstaates vorgesehen wäre. Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober ist da fast kein Durchkommen mehr. Israel hat das Palästinensergebiet förmlich mit Checkpoints durchsetzt.
Rishmawi nimmt den Atlas des UNO-Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, OCHA, hervor. «Das ist Jerusalem, daneben Bethlehem, und wir sind hier, in Beit Sahur. Jetzt schau dir Bethlehems Umgebung mal an! Die Stadt ist von israelischen Siedlungen umgeben und auf drei Seiten eingemauert!»
Auf der vierten Seite ist eine Strasse, auf der nur Israeli fahren dürfen, obwohl sie auf palästinensischem Boden, also innerhalb der grünen Linie liegt.
Was der palästinensische Christ auf der Karte zeigt, kann man sich erst draussen im Feld richtig vorstellen: Dass es kein palästinensisches Dorf mehr gibt, von dem man ohne Sperre oder Checkpoint auf direktem Weg in ein anderes fahren kann.
Nach zehn Minuten Fahrt schon das erste Hindernis: Ein Eisentor versperrt den Weg. Rishmawi muss wenden. Nicht nur die israelische Armee, sondern auch Siedler sperren Strassen. Rishmawi zeigt auf willkürlich errichtete Blockaden, während er, auf Umwegen Bethlehem verlässt und Richtung Walaja fährt.
«Geografisch ist die Zweistaatenlösung nicht mehr möglich»
Das palästinensische Dorf ist von Mauern, Stacheldrahtzäunen und israelischen Siedlungen umzingelt. Die Bauern dort kämpfen seit Jahren gegen Landenteignung und die Zerstörung eines ganzen Dorfteils durch die Israeli.
Allein in den letzten zwei Wochen hätten die Israeli sieben Häuser wegen angeblich fehlender Baubewilligungen zerstört, sagt die lokale Holzkünstlerin und Aktivistin Taghrid Arag. Eine Protestnote aus der EU im Februar verhallte ohne Wirkung.
Für Israel gehört ein Teil von Walaja zu «seiner» Hauptstadt Jerusalem. Für Walaja und für die internationale Gemeinschaft ist Ost-Jerusalem besetztes Gebiet und damit Teil eines künftigen palästinensischen Staates.
Zurück im Büro nimmt George Rishmawi resigniert wieder den Atlas hervor. «Im Westjordanland ist eine Zweistaatenlösung nicht mehr möglich. Sie beschlagnahmen, kontrollieren alles …» Er blättert im Atlas bis zur Seite mit der zweiten grünen Linie: derjenigen um den Gazastreifen, der auch als Teil eines palästinensischen Staates vorgesehen wäre.
«Neben Gaza leben, nach allem, was passiert ist? Unmöglich.»
Im Kibbuz Mefalsim hört man die Bombardierung des Gazastreifens deutlich. Der Kibbuz liegt nur knapp anderthalb Kilometer von der Grenze entfernt.
Der 24-jährige Student Almog ist vor wenigen Tagen in seine Wohnung zurückgezogen. Im Stockwerk darüber klafft ein Loch. Am 7. Oktober stürmten Hamas-Terroristen den Kibbuz. Eine Panzerabwehrgranate traf das Gebäude, in dem Almog wohnt. Er selbst war nicht da. Er hatte Semesterferien.
Im Gegensatz zu den umliegenden Gemeinden, wo die Hamas Hunderte von Menschen tötete, hatte der Kibbuz Mefalsim am 7. Oktober viel Glück. Bewaffneten Kibbuzmitgliedern gelang die Verteidigung, ohne eigene Tote und Verletzte.
Der Schock über den Angriff der Hamas sitzt bei Almog tief. Eine Lösung für die Zukunft sieht Almog nicht, eine Zweistaatenlösung kann er sich nicht vorstellen. «Ich glaube an Koexistenz. Ich habe arabische Freunde. Aber mit Gaza nebenan zu leben, nach allem, was passiert ist: Das ist unmöglich.»
Zuerst müsse man die Hamas loswerden, sagt Almog. Dass dies möglich ist, glaubt er allerdings nicht. «Ich wünschte mir, wir könnten sie loswerden, aber ich glaube nicht daran. Die Hamas hat ja scheinbar schon gewonnen. Sie hat etwas Historisches gemacht. Sie sind wie Mäuse: Du kannst eine töten, aber nie alle. Es ist wie mit Hitler: Er war das Symbol, hatte viele Anhänger. Diese hassen uns über seinen Tod hinaus.»
«Nach dem 7. Oktober wollte ich mehr über beide Seiten erfahren»
Die grosse Mehrheit der israelischen Bevölkerung spricht nur noch von «balagan gadol»- einem grossen Schlamassel, aus dem man nicht mehr herauskommt. Bei der Studentin Toni, 25, hat der 7. Oktober jedoch ein Umdenken ausgelöst. Sie studiert Animation am Sapir College, einer Hochschule, die nur drei Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt.
Die Sirenen, die Raketen, die Luftschutzräume: Sie wurden für die jüdische Studentin bald zur Normalität. Bis zum 7. Oktober. «Plötzlich rief ein Freund in meinem Wohnblock: Die Hamas sind in Sderot! Terroristen! Und wir sahen die Terroristen auf ihren weissen Geländewagen – mitten in der Stadt! Ich kann jetzt noch nicht darüber reden, ohne am ganzen Körper zu zittern. Es fühlt sich noch immer surreal an.»
Von der Angst lähmen liess sich die 25-Jährige nicht. Im Gegenteil: Es wurde ihr erst bewusst, dass nichts, was sie für normal gehalten hatte, wirklich normal ist. «Nach dem 7. Oktober besuchte ich ein Seminar über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Ich schreibe gerade eine Arbeit darüber. Erst nach dem 7. Oktober hatte ich das Bedürfnis, mehr über beide Seiten zu lernen.»
Ihre Erkenntnis: «Zuerst müssen wir akzeptieren, dass wir Nachbarn haben und wir sollten ihnen den Raum geben für einen eigenen Staat. Das wäre das beste für meine künftigen Kinder und für unsere Zukunft. Es ist sehr schwer, in einer Gesellschaft zu leben, in der es diese Anspannung und einen ständigen Feind gibt. Diesen Feind gibt es aber auch wegen dem, was wir tun. Und ich habe das Gefühl: Es hört nie auf.»