Über mögliche Lösungen dieses endlosen, blutigen israelisch-palästinensischen Konflikts nachzudenken, fällt selbst zwei bekannten, kritischen Denkern Israels schwer: Michael Sfard und Raef Zreik.
SRF News: Wie würden Sie Ihre eigene Stimmung beschreiben?
Raef Zreik: Auf persönlicher Ebene finde ich es erschreckend und deprimierend. Wie können Menschen weiter leben, denken, hoffen, lieben, nach so viel Blutvergiessen? Die Israeli überlegen sich gar nicht, wie es nach dem Blutvergiessen weitergeht. Stattdessen sind sie besessen davon, sich zu rechtfertigen. Manchmal ist das eine Art, sich von den Konsequenzen seines Handelns zu distanzieren und ich fürchte, Israel bewegt sich in diese Richtung.
Am Ende müssen zwei Völker hier irgendwie zusammenleben.
Israeli denken, mehr und noch mehr Gewalt könne ihre Probleme lösen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie morgen aussehen könnte. Am Ende müssen zwei Völker hier irgendwie zusammenleben. Aber wie, wenn du 30'000 tötest und weitere 50'000 verletzt? Weiterleben ist angesichts eines solchen Massakers schwer vorstellbar.
Michael Sfard: Früher dachte ich: Wir müssen nur ein Modell finden fürs Zusammenleben von Palästinensern und Juden, und dann werden wir ein normales Land mit normalen Problemen sein. Aber jetzt: Auch wenn wir eine Lösung finden, werden wir keine normale Gesellschaft sein. Denn wir werden – auf beiden Seiten – mit dem leben müssen, was wir einander angetan haben. Und das wiegt sehr schwer. Emotional bin ich also mit Raef Zreik einverstanden.
Nur schon uns selbst zuliebe dürfen wir nicht passiv werden.
Intellektuell müssen wir uns aber die Menschheitsgeschichte vor Augen halten. Das ist nicht der erste und nicht einmal der blutigste Konflikt. Nationen haben sich nach fürchterlichen Grausamkeiten wieder aufgerichtet. Es ist also möglich – vielleicht nicht zu meiner Lebzeit. Aber wenn wir aufgeben, dann geht die Gewalt weiter. Nur schon uns selbst zuliebe dürfen wir nicht passiv werden.
Wo beginnt man denn überhaupt, eine Lösung zu suchen?
Raef Zreik: Zuerst mit dem Töten aufhören, das wäre immerhin ein Anfang. Dann weiss ich auch nicht weiter, aber so lange das Töten weitergeht, können wir nicht einmal denken. Israel wird häufig angegriffen, das streite ich nicht ab. Aber die Frage ist, wie man diese Angriffe erklärt.
In der israelischen Politik ist es jetzt salonfähig geworden zu sagen: Das ganze Land gehört uns. Das ist eine Kriegserklärung an die Palästinenserinnen und Palästinenser. Man darf aber nicht unterschätzen, dass der 7. Oktober für die Israeli ein Schock war. Dieser Horror hat in der jüdischen Gemeinschaft ein tiefes Gefühl der Zerbrechlichkeit ausgelöst.
Michael Sfard: Die Hamas hat Kriegsverbrechen begangen. Und jetzt begehen Israel und seine Streitkräfte im Gazastreifen ebenfalls Kriegsverbrechen. Der Westen muss sich fragen, wie es so weit gekommen ist. In kaum einem Konflikt hat er so viel investiert und so katastrophal versagt. Die EU und auch die Schweiz haben eine besondere Verantwortung, weil sie die Hüterinnen humanitärer Prinzipien sind. Wenn sie über israelische Menschenrechtsverletzungen hinwegsehen, ist das eine Ohrfeige für alle in Israel, die sich dagegen wehren.
US-Präsident Joe Biden fordert eine Zweistaatenlösung…
Raef Zreik: Mir macht diese Eile Angst. Eine Zweistaatenlösung sollte mehr als eine technische Lösung sein.
Michael Sfard: Wir müssen eine Vision entwickeln, wie Israeli und Palästinenser dieses Land teilen können. Beide Völker wollen politische und nationale Selbstbestimmung, deshalb Ja zu einer Zweistaatenlösung.
Das Gespräch führte Susanne Brunner.