Die Ausgrabungsstätte Pompeji fasziniert Archäologen und Archäologinnen schon seit geraumer Zeit. Jede Generation gräbt mit neuen Fragen, neuem Wissen, neuen Techniken. Archäologinnen und Archäologen entlocken den Mauern, Scherben, Fresken oder Knochen bis heute neue Erkenntnisse.
Lange stand die kleine Oberschicht von Pompeji im Zentrum der Forschung. Ganze Generationen von Archäologinnen und Archäologen gruben vor allem die prächtigen Häuser der Reichen aus und stiessen dabei auf Statuen, Fresken oder grosse Gärten. Von der armen Bevölkerung hingegen wusste man nur sehr wenig.
Die Archäologie entdeckt die einfachen Leute
Gabriel Zuchtriegel ist Deutsch-Italiener und leitet den archäologischen Park von Pompeji seit 2021. Zuchtriegel sagt, heute wolle man auch wissen, wie die breite Bevölkerungsmehrheit lebte: «Wir gehen davon aus, dass in der antiken Stadt mindestens 20'000 Menschen wohnten. Pompeji war also sehr dicht besiedelt. Die armen Leute lebten zum Teil auf engstem Raum, während die Reichen riesige Häuser und Gärten hatten. Es gab einen starken Kontrast.»
Dieser Kontrast und die damit zusammenhängenden Fragen der Gerechtigkeit interessierten die Forschenden heute, sagt Zuchtriegel. Dieses Thema zeigt sich sehr anschaulich in einem Zimmer, das man erst vor kurzem freigelegt hat.
In diesem schliefen drei Sklaven eng beieinander. Die Betten, auf die man in diesem Raum stiess, sind äusserst einfach. Sie bestanden lediglich aus einem Holzrahmen und einem darin verspannten Netz aus Schnüren. Darauf schliefen die Sklaven. Matratzen gab es nicht.
Neue Technologien bieten andere Möglichkeiten
Holz und Schnüre sind im Lauf der Jahrhunderte zerfallen. Doch der Auswurf, mit dem der Vulkan bei der Eruption alles zudeckte, wurde beim Erkalten schnell sehr hart. Und so bestehen dort, wo einst Holz und Schnüre waren, Hohlräume.
Gipsabgüsse sind noch besser als Fotos, denn sie sind dreidimensional.
Wenn man heute bei einer Ausgrabung auf solche Hohlräume stösst, dann giesst man diese mit Gips aus. Eine Technik, der man sehr viele Erkenntnisse verdankt, erklärt Gabriel Zuchtriegel: «Man kann es sich fast so vorstellen, als hätten wir Fotos. Doch eigentlich sind diese Gipsabgüsse noch besser als Fotos, denn sie sind ja dreidimensional.»
Solche Abgüsse machen es heute möglich, Alltagsgegenstände und damit das Leben einfacher Leute sehr realistisch zu rekonstruieren und für die Besucherinnen und Besucher darzustellen.
Das täglich Brot war mit viel Qual verbunden
In Pompeji habe es eine für uns nur schwer vorstellbare Ungleichheit gegeben, bilanziert Zuchtriegel. Die zeigt sich auch bei einer weiteren Ausgrabung. Vor kurzem stiessen Archäologinnen und Archäologen auf eine antike Bäckerei. Die ist unterdessen vollständig ausgegraben. Dort hat man nicht nur gebacken, sondern auch Getreide zu Mehl gemahlen.
An vier Mühlsteinen arbeiteten Sklaven und Esel. Mensch und Tier verrichteten ihren schweren Dienst in einem finsteren Raum, wie in einem Verlies. Die Freilegung der Bäckerei liefert den Archäologinnen und Archäologen noch weiteres Wissen über den Alltag im antiken Pompeji.
Alessandro Russo, der hier gegraben hat, sagt: «In Pompeji haben wir diverse Bäckereien entdeckt. Darum wissen wir, dass die breite Mehrheit der Bevölkerung vor allem Brot ass. Nur die Oberschicht bekam regelmässig auch anderes auf den Teller. Zum Beispiel Fisch, Trauben, Feigen oder Geflügel.»
Fliessendes Wasser war ein Luxus
In der Backstube verweist der Archäologe noch auf ein weiteres, interessantes Detail: Von der antiken Strasse her führt ein Rohr in den Raum. «In dieser Bäckerei gab es also fliessendes Wasser», erklärt Russo. «Die Wasserleitung bestand aus Blei.» Sie sieht erstaunlich modern aus, beinahe als stammte sie aus einem Baumarkt.
Allerdings war fliessendes Wasser ein Luxus, denn die meisten privaten Häuser hatten keinen Anschluss. Darum wuschen sich die Leute an öffentlichen Brunnen oder in Thermen. Auch ein WC gab es nur in den wenigsten Häusern. Dafür hatte man Nachttöpfe, deren Inhalt man am Morgen ungeniert auf die Strasse schüttete. Die Strassen also waren schmutzig. So ging man auf den stark erhöhten Gehsteigen, um sich die Füsse nicht schmutzig zu machen.
Ein Drittel von Pompeji ist nach wie vor unerforscht
Dass das Leben in Pompeji für viele sehr hart war, zeigt sich in einer sehr erschreckenden Zahl: 30 bis 40 Prozent der Kinder starben während ihres ersten Lebensjahres. Dies hat mit einseitiger Ernährung oder schlechter Hygiene zu tun. Aber auch die engen Verhältnisse, in denen die meisten lebten, waren ein Gesundheitsrisiko.
Unterdessen gräbt Archäologe Alessandro Russo schon ein weiteres Gebäude aus. Bisher sieht man davon aber nur den obersten Teil von Säulen. Sie ragen nur wenige Zentimeter aus dem Boden.
Nach der Verschüttung durch den Vesuv ging Pompeji während Jahrhunderten vergessen. Erst 1763 hat man die Ruinen der antiken Stadt wiederentdeckt. Seither grub man rund zwei Drittel Pompejis wieder aus. Ein Drittel aber liegt noch immer unter der Erde. Auch künftige Generationen werden also die Möglichkeit haben, Pompeji mit neuen Fragen oder Techniken zu erforschen.