Sein Name ist derzeit in aller Munde: Javier Milei, Präsidentschaftskandidat aus Argentinien. Der Ökonom und Populist macht mit radikalen Ideen auf sich aufmerksam: Milei bezeichnet sich als Anarchokapitalist und träumt von einem Argentinien mit möglichst wenig Staat und wenig Aufsicht, wo der Markt alles bestimmt. «Die argentinische Zentralbank gehört in die Luft gesprengt», sagte Milei einmal. In Argentinien, wo es die bisherige linke Regierung von Präsident Alberto Fernández nicht schafft, die Inflationsrate von über 100 Prozent in den Griff zu bekommen, sorgen solche Aussagen für Beifall.
Der Exzentriker vom rechten Rand schlägt inzwischen vor, den Peso, wie schon in den 1990er-Jahren, wieder fest an den Dollar zu binden, die US-Währung gar als offizielles Zahlungsmittel einzuführen. Der Vorschlag gefällt vielen. Andere sorgen sich über eine stärkere finanzielle Abhängigkeit von den USA und der Zinspolitik der US-amerikanischen Notenbank.
Dem politischen Neuling Milei kommt zugute, dass er sich die Finger noch nicht verbrannt hat, anders als die etablierten Parteien. Er kann als politischer Outsider den Frust vieler Argentinierinnen und Argentinier überzeugend verkörpern. Bei den Vorwahlen im August holte Milei denn auch rund 30 Prozent der Stimmen, mehr als jeder andere Kandidat. Milei gilt damit als Topfavorit für die Präsidentschaftswahlen im Oktober.
Was führt Argentinien aus der Krise: Wandel oder Kontinuität?
Händler Roberto aus Buenos Aires ist überzeugt: «Wir brauchen Veränderung, so kann es nicht weitergehen», sagt Roberto. «Unsere Politik ist wie ein Hund, der sich im Kreis dreht und sich ständig in den eigenen Schwanz beisst. Ich bin jetzt 71. Und seit ich ein Kind war, heisst es immer: die Wirtschaft, die Wirtschaft, die Wirtschaft ... Unsere Jungen gehen weg nach Europa; wenn wir unsere Inflation unter Kontrolle bringen würden, kämen sie zurück.»
Roberto arbeitet noch immer als Verkäufer, weil er anders nicht über die Runden käme – seine kleine Pension schrumpft wegen der hohen Inflation in Argentinien stetig weiter. Wen er wählen wird, weiss er noch nicht. Roberto ist gespalten zwischen Javier Milei, rechts aussen, und Patricia Bullrich, Mitte-rechts. Sie politisiert vor allem mit Sicherheitsthemen, will zum Beispiel das Waffenrecht lockern.
Unsere Politik ist wie ein Hund, der sich im Kreis dreht und sich ständig in den eigenen Schwanz beisst. Ich bin jetzt 71. Und seit ich ein Kind war, heisst es immer: die Wirtschaft, die Wirtschaft, die Wirtschaft ...
In Lomas de Zamora, einer Kleinstadt innerhalb der Metropolregion, treffen wir Eliana von der Wetter, Mariano Irazu und ihre kleine Tochter, die dreijährige Matilda. Mariano und Eliana haben studiert und verdienen zusammengezählt um die 3000 Franken – viermal so viel wie der argentinische Durchschnittslohn. Sie gehören damit zu Argentiniens schrumpfendem Mittelstand. «Bei uns reicht es gerade bis zum Monatsende, aber wir können auch nicht einfach alles Mögliche einkaufen. Wir schauen uns den Fleischpreis zum Beispiel genau an. Wenn das Fleisch zu teuer ist, kaufen wir lieber andere Dinge ein. Das spüren wir schon», sagt Eliana.
Grosse Hoffnung auf mehr Stabilität haben die beiden nicht: Sie wollen trotzdem den Mitte-links-Kandidaten Sergio Massa wählen, den Wirtschaftsminister der bisherigen Regierung. «Ich werde für Massa stimmen, aber nicht, weil ich ihn als Hoffnungsträger sehe, sondern weil mir die anderen Optionen, Milei und Bullrich, Angst machen», sagt Eliana. «Was auf dem Spiel steht, ist nicht nur die Wirtschaft, sondern unsere Gewaltentrennung, der Staat, die Demokratie selbst – Mileis Rechtsaussen-Politik umzusetzen, das würde bedeuten: ‹Rette sich, wer kann›», sagt Jurist Mariano.
Mit jeder Krise ist in Argentinien die Armut gewachsen
Es sind viele Faktoren, die zu Argentiniens schwerer Wirtschaftskrise beitragen, sagt Ökonom Leandro Mora Alfonsín in einem Café in Buenos Aires. «Es fehlt Geld in der argentinischen Staatskasse. Das Land ist hoch verschuldet. Seit 2018 haben wir eine Wechselkurs- und Schuldenkrise. 180 Milliarden US-Dollar Schulden nahmen wir damals bei ausländischen Investoren auf, später nochmals 45 Milliarden US-Dollar beim internationalen Währungsfonds – die grösste Summe, die je auf einmal unterzeichnet wurde.»
Um diese Schulden zurückzuzahlen, druckt die argentinische Zentralbank ständig neues, frisches Geld. Das treibt die Inflation in die Höhe. Zum Schuldenberg kommen jetzt noch die Folgen der Corona-Pandemie, des Kriegs in der Ukraine mit den Schwankungen bei den weltweiten Energiepreisen und eine grosse regionale Dürre in Argentinien, die zu Ausfällen bei der Soja-Ernte führte – Argentiniens wichtigstem Exportgut.
Mit jeder Krise sind mehr Argentinier durch die Maschen des Systems gefallen – und sie finden nicht mehr rein.
Argentinien spüre jetzt die Folgen verschiedenster Krisen, ist Ökonom Alfonsín überzeugt: Seit Jahrzehnten taumle Argentinien von der einen in die nächste Krise. «Diese Krisen haben unterschiedliche Charakteristiken, aber sie sind kumulativ. Mit jeder Krise sind mehr Argentinier durch die Maschen des Systems gefallen – und sie finden nicht mehr rein.» Deshalb wachse die Schattenwirtschaft und der Frust in der Bevölkerung, so der Ökonom. Nun brauche es dringend Sparmassnahmen.
Ob eine neue Regierung einen Stabilisierungsplan durchsetzen kann, ist fraglich. Klar ist: Es dürfte bei den Wahlen am 22. Oktober für Argentinien also um viel mehr gehen als nur um die Frage, wer als Nächstes im Präsidentschaftspalast, der Casa Rosada, residiert. Denn Argentinien feiert aktuell 40 Jahre Demokratie nach dem Ende der Diktatur der Militärjunta. Und ausgerechnet im Jubeljahr ist ein Rechtsaussen-Kandidat überzeugt davon, dass er die Macht erlangen kann. Einer, der den Staat an sich verspottet.