Staatssystem: Nach Juli 2016 hat sich das politische System der Türkei tiefgreifend verändert. Der gescheiterte Putsch gilt für so manche Kritiker als «Katalysator» für den Staatsumbau hin zu einer Autokratie. Das System der parlamentarisch kontrollierten Regierung wurde abgeschafft, zentrale Machtposition ist der Staatspräsident, der die Politik bestimmt und Minister ein- und absetzen kann. Auch ist er befugt, ohne besondere Voraussetzungen das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Er muss nicht mehr strikt neutral sein, sondern darf sogar Parteichef sein.
Diese Änderungen der Verfassung wurde im April 2017 mit einer knappen Mehrheit von 51,41 Prozent angenommen. Sie werden allerdings erst mit der nächsten Wahl des Staatspräsidenten in Kraft treten. Die vorgezogenen Wahlen vom 24. Juni 2018 bedeuten somit den definitiven Übergang zum Präsidialsystem (siehe Box: «Wahlen von ausserordentlicher Bedeutung»).
Aussenpolitik: Erdogan galt lange als Hoffnungsträger des Westens. So leitete er die Beitrittsverhandlungen mit der EU ein. Seit dem sogenannten «arabischen Frühling» (ab Ende 2010) ist die Türkei unter seiner Führung aber zu einer offensiven und ideologisch ausgerichteten Aussenpolitik mit militärischen Ambitionen übergegangen. Damit begann auch der internationale Abstieg Ankaras. Das Land wurde in den Augen des Westens vom Partner zu einem unzuverlässigen Problemland, das heute in der internationalen Kritik steht.
Dies bestärkt den Präsidenten in seinem Konfrontationskurs gegen den Westen. Nach dem Putschversuch haben sich die scharfe Kritik der Menschenrechtslage in der Türkei durch die westliche Welt und die wütenden Reaktionen aus Ankara darauf noch verstärkt.
Innenpolitik: Versprach Erdogan unmittelbar nach dem Aufstand noch einen Neuanfang und ging auf die Opposition zu, verhängte er am 20. Juli 2016 den – alle drei Monate verlängerten und bis heute geltenden – Ausnahmezustand. Dieser berechtigt die Regierung gewisse Grundrechte einzuschränken. Auch können Verhaftungen ohne gerichtliche Anordnung vorgenommen werden. Regiert wird per Dekret.
Seither geht der Staat gegen mutmassliche Gülen-Anhänger vor, in allen Bereichen der Gesellschaft: Militär, Justiz, Journalismus, Bildungswesen und Gewerkschaften. Über 105'000 Staatsangestellte haben ihren Job verloren, Vereine und Stiftungen sowie Medien (siehe unten) wurden geschlossen.
Kurden- und Minderheiten-Frage: Schienen in den ersten Regierungsjahren Erdogans noch Friedensverhandlungen mit den Kurden möglich, hat sich die Haltung gegenüber Minderheiten und ihren Rechten (neben Kurden sind dies auch die Aleviten und Armenier, aber auch Christen) verschärft. Sie werden als Gefahr für die Einheit der türkischen Nation gesehen.
Schon vor dem Putschversuch war der Konflikt nach einem mehr als zwei Jahre dauernden Waffenstillstand erneut entflammt. Im Wahlkampf zeigt die Regierung eine noch härtere Haltung gegenüber der PKK.
Gesellschaft: Der konservative Muslim Erdogan hat seit den Ereignissen im Juli 2016 noch stärker versucht, die türkische Gesellschaft nach seinen Vorstellungen zu verändern. Das zeigt sich zum Beispiel in der immer wichtigeren Rolle der Religion im einst laizistisch verfassten Land. Beobachter sprechen von der Rückkehr des Islam in der türkischen Öffentlichkeit: so liess die Regierung Mitte 2017 die Evolutionstheorie aus den Bildungsplänen entfernen. Beobachter beklagen eine «Entwissenschaftlichung» der Bildung. Dazu kommt, dass kritische Denker und Forscher (darunter über 8000 Professoren und Akademiker) entlassen werden. Viele verlassen das Land. Es herrscht gemäss Beobachtern ein Klima der Angst.
In der Putschnacht mehrheitlich geeint gegen die Aufständischen, ist die türkische Gesellschaft heute wieder tief gespalten. Die einen sehen Erdogan als Retter der Nation und Lichtgestalt, der den Stolz des Landes wiederhergestellt hat. Die anderen sehen in ihm einen Autokraten, der Kritiker wegsperren lässt und die Islamisierung der Türkei vorantreibt.
Opposition: Seit dem Putschversuch geht Erdogan rigoros gegen Kritiker vor. Trotz der Säuberungswellen hat sich aber eine Opposition halten können. Die Zivilgesellschaft und die übrig gebliebenen Intellektuellen kämpfen weiterhin für mehr Demokratie und Rechtsstaat.
Was die Parteienlandschaft betrifft, so ist diese traditionell stark zersplittert und polarisiert. Streitpunkt ist vor allem die Kurden-Frage. Beobachter sagen, dass für die Herausforderung Erdogans eine effektive Kooperation der Opposition nötig wäre. Erdogan hat mit der Vorverlegung der Wahlen die Zeit für diesen Prozess verkürzt. Darum war man zuerst überzeugt, dass Erdogan und seine AKP die absolute Mehrheit auf sicher habe. Mittlerweile wird nicht ausgeschlossen, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verlieren könnte.
Medien: In den letzten zwei Jahren wurden weit über 100 Journalisten verhaftet und rund 150 Medien geschlossen. Kritische Journalisten stehen unter Generalverdacht. «Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Ausnahmezustand für eine beispiellose Hexenjagd auf ihre Kritiker in den Medien genutzt», wie Reporter ohne Grenzen schreibt. Die Türkei gehört damit zu einem der Länder mit den meisten inhaftierten Journalisten. Andere gehen ins Exil.
Die politischen Verflechtungen vieler Medienbesitzer ersticken eine kritische Berichterstattung im Keim. So wird über den Wahlkampf Erdogans in extenso berichtet, während die Auftritte der Gegenkandidaten verkürzt oder gar nicht dargestellt werden. Eine wichtige Rolle spielen alternative Medien im Internet.
Wirtschaft: Seit Beginn der Regierungszeit Erdogans im Jahr 2003 hat die vom Präsidenten gerne so genannte «Neue Türkei» einen enormen wirtschaftlichen Aufstieg erfahren. Auch im ersten Quartal 2018 wuchs das Bruttoinlandprodukt (BIP).
Doch bereiten der Wertverfall der Lira und die hohe Inflation vielen Türken Sorgen. Die privaten Haushalte verschulden sich immer mehr. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent. Das Handelsbilanzdefizit hat alarmierende Werte erreicht. Mehrere Unternehmen wurden nach dem Putsch von der Regierung enteignet und unter Zwangsverwaltung gestellt.