Der alte und neue Präsident der Türkei tritt sein drittes Herrschaftsjahrzehnt an. Bei seinem Wahlsieg konnte Recep Tayyip Erdogan nicht nur auf seine Machtbasis in der Türkei zählen. In der türkischen Diaspora in Deutschland holte er satte 67 Prozent der Stimmen – ähnlichen Zuspruch erhielt er in Österreich, Frankreich, Belgien oder den Niederlanden.
Der deutsche Agrarminister Cem Özdemir zeigte sich über die erneut hohe Zustimmung für Erdogan enttäuscht. In Deutschland würden seine Anhänger feiern, «ohne für die Folgen ihrer Wahl einstehen zu müssen», schrieb der Grünen-Politiker mit türkischen Wurzeln.
Und schob nach: «Die Autokorsos sind keine Feiern harmloser Anhänger eines etwas autoritären Politikers. Sie sind eine nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie.»
Kritik an «Wähler-Bashing»
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, verwahrte sich gegen das «Bashing» von Wählerinnen und Wählern und sieht die deutsche Politik in der Pflicht.
In der Schweiz stimmten dagegen 57 Prozent der türkischen Wahlberechtigten für Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Ein Resultat, das eher im Sinne des deutschen Ministers sein dürfte. Muss man also «darüber reden», wenn sich türkische Wählerinnen und Wähler im Ausland mehrheitlich für Erdogan entscheiden?
Die Frage ist genauso relevant, wenn sich Bürger in Deutschland für die AfD entscheiden.
Bilgin Ayata ist Professorin für politische Soziologie mit Schwerpunkt Südosteuropa an der Universität Graz. Sie hält die Kritik am Wahlverhalten von Teilen der türkischen Diaspora zwar für berechtigt. «Insbesondere unter Oppositionellen in Europa gibt es sehr viel Unmut darüber, dass diese Leute die zunehmende Autokratisierung ihrer Heimat befürworten.»
Gleichzeitig relativiert die Soziologin. Sympathien für politische Kräfte mit einem zweifelhaften Demokratieverständnis gebe es nämlich nicht nur bei der türkischen Diaspora in Deutschland. «Die Frage ist genauso relevant, wenn sich Bürger in Deutschland für die AfD entscheiden», sagt Ayata.
Erdogans langer Arm
Mit Blick auf Länder wie Deutschland und Österreich gelte es zudem zu berücksichtigen, dass Erdogan und seine Partei dort stark präsent seien. «Der lange Arm Erdogans ist hier eindeutig vorhanden.» Grundsätzlich kommt das Wahlverhalten der türkischen Diaspora für die Expertin aber nicht überraschend: Es fügt sich nämlich in die Ergebnisse vergangener Urnengänge ein.
Seit 2014 können sich im Ausland lebende türkische Staatsbürgerinnen und -Bürger an den Wahlen in der Türkei beteiligen. Seither gibt es laut Ayata auch die «eklatanten Unterschiede» in der Diaspora: So erhalten in der Schweiz, den USA oder auch Grossbritannien traditionell die Oppositionskandidaten die meisten Stimmen.
Migrationsgeschichte bestimmender Faktor
«Das hat sehr stark mit der Zusammensetzung der jeweiligen Diaspora zu tun», erklärt die Soziologin. «Prägend für das Wahlergebnis in der Schweiz ist, dass dort sehr viele Alevitinnen und Kurden leben.» Zudem gibt es in der Schweiz auch viele politische Flüchtlinge, die nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei in die Schweiz kamen.
Ganz anders die türkische Migrationsgeschichte in Deutschland oder Österreich. «Dort prägte die klassische Arbeitsmigration das Bild.» Fazit: Wie die Türkei selbst ist die auch die Diaspora tief gespalten – und das dürfte bis auf Weiteres so bleiben.