Der deutsche Wahlkampf nähert sich der Zielgeraden. In knapp sechs Wochen wird entschieden, wer nach Angela Merkel ins Kanzleramt einzieht. In Umfragen liegen SPD, Union und Grüne nah zusammen. Entsprechend könnte die FDP das Zünglein an der Waage spielen – jene Partei, die noch zu Beginn der Pandemie bei fünf Prozent Wähleranteil dümpelte und gar aus dem Bundestag zu fliegen drohte. Doch sie hat sich auf rund zwölf Prozent hochgekämpft – auch dank des Corona-Kurses von Parteichef Christian Lindner.
SRF News: Herr Lindner, liessen Sie sich in der Pandemie vom Schweizer Weg inspirieren?
Christian Lindner: Die FDP ist die Partei in Deutschland, die von der Mentalität her dem angelsächsischen Raum oder eben der Schweiz am nächsten steht – mit der Orientierung auf Freiheit und Eigenverantwortung. Das haben wir in der deutschen Politik eingebracht und das hat uns eine ethische Grundierung gegeben, auf der wir jetzt aufbauen können. Jetzt geht es um wirtschaftliche Erholung, die Beseitigung der digitalen Defizite bei der Bildung und in der Verwaltung des Staates. Da trauen uns die Menschen etwas zu.
Jetzt geht es um wirtschaftliche Erholung, die Beseitigung der digitalen Defizite bei der Bildung und in der Verwaltung des Staates. Da trauen uns die Menschen etwas zu.
Sie trauen Ihnen sehr viel zu. Die FDP dürfte bei der Regierungsbildung das Zünglein an der Waage sein. Wie gefällt Ihnen das?
Wir sehen uns als eigenständige politische Kraft, die ihre Ideen und Projekte einbringen will. Wir wollen uns nach der Wahl für solide Finanzen nach den ganzen Schulden einsetzen, den Bürokratismus zurückschneiden und die individuelle Freiheit und den Erfindergeist wieder entfesseln. Das Bildungssystem muss wieder auf die Höhe der Zeit. Mit jenen, die das auch wollen, wollen wir gerne in eine Regierung eintreten. Aber wir werden keine weitere Linksverschiebung unseres Landes unterstützen.
Mit Rot-Grün würden sie also nicht eine Koalition eingehen?
Das ist eine hypothetische Frage, weil ich trotz allem davon ausgehe, dass die CDU/CSU die stärkste Fraktion wird. Falls nicht, schaut man sich eben auch Inhalte an. SPD und Grüne stehen mit ihren Vorstellungen von Umverteilung, Subventionen und Verboten aber eher der Linkspartei nahe und nicht der FDP.
Höhere Steuern und höhere Schulden sind zwei rote Linien. Wer das von uns verlangt, kann nicht auf uns zählen.
Die Linken aber wollen höhere Steuern, was nach der Wirtschaftskrise kein guter Rat ist – auch angesichts bereits enormer Schulden und Inflationsrisiken. Dennoch wollen sie noch mehr Schulden und die Schuldenbremse der Verfassung aufweichen. Höhere Steuern und höhere Schulden sind zwei rote Linien. Wer das von uns verlangt, kann nicht auf uns zählen. Über anderes kann man sprechen.
Vor vier Jahren wurden Sie angesichts einer möglichen schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition wie folgt zitiert: Besser nicht regieren als schlecht regieren. Können sie ausschliessen, dass sie wieder davonlaufen?
Nein. Die FDP wird sich auch nach der Wahl daran erinnern, was sie vor der Wahl gesagt hat. Niemand kann darauf bauen, dass wir für Karrieren, Dienstautos und Pensionen unsere Überzeugungen verraten. Allerdings hat sich die Lage mit Blick auf eine solche Jamaika-Koalition geändert.
Der Ausgangspunkt von Jamaika-Gesprächen wäre heute eine erfolgreiche schwarz-gelbe Zusammenarbeit und nicht eine schwarz-grüne Fantasie.
Damals waren Frau Merkel und die Grünen bereits handelseinig über eine spürbare Verschiebung der Koordinaten nach links und für mehr Staat. Gegenwärtig mit der Union regieren wir im grössten Bundesland Nordrhein-Westfalen mit Herrn Laschet als Ministerpräsidenten. Der Ausgangspunkt von Jamaika-Gesprächen wäre also heute eine erfolgreiche schwarz-gelbe Zusammenarbeit und nicht eine schwarz-grüne Fantasie.
Sie haben ihr Interesse am Finanzministerium angemeldet. Da kämen grosse Aufgaben und Ausgaben auf Sie zu. Wie soll das ohne höhere Steuern und mehr Schulden gelingen?
Der deutsche Staat muss seine bisherigen Aufgaben und Ausgaben prüfen. Es geht enorm viel Geld in Subventionen, die niemand wirklich braucht. Etwa die Subventionierung von Elektroautos auch für Gutverdienende, die einen Dienstwagen fahren. Es muss private Investitionen in saubere Technologie geben – von den Betrieben, vom Handwerk über den Mittelstand bis zur Industrie. Das können sie nicht leisten, wenn ihnen der Staat alles wegnimmt. Ganz viele normale Menschen wie der Polizist oder die Krankenpflegerin können sich den Traum von eigenen vier Wänden nicht mehr finanzieren.
Wo würden sie als Finanzminister den Rotstift noch ansetzen?
Viele Subventionen, die ökologisch teilweise nicht sinnvoll oder reine Mitnahmeeffekte sind, müssen auf den Prüfstand. Aber weniger der Rotstift sollte die zukünftige Arbeit der Bundesregierung leiten, sondern vielmehr der Gedanke, dass mit Erfinder- und Gründergeist neue wirtschaftliche Substanz entstehen kann. Wenn es gelingt, Deutschland zu entfesseln, als Nation von Ingenieurinnen und Technikern, erzielen wir einen doppelten Nutzen. Dann können wir der Welt saubere Technologien liefern und bei uns zugleich Jobs und Steuereinnahmen sichern.
Was, wenn es nicht gelingt und Sie doch zwischen höheren Steuern oder höheren Schulden wählen müssten?
Das wären Schein-Alternativen. Es führt kein Weg daran vorbei, das wirtschaftliche Fundament des Staates zu stärken. Wenn die Menschen Jobs haben, gerne Überstunden leisten, wenn neue Betriebe gegründet werden und die bisherigen auf dem Weltmarkt erfolgreich sind, dann sind die Staatsfinanzen solide und die Menschen haben Aufstiegsperspektiven.
Wenn es gelingt, Deutschland zu entfesseln, als Nation von Ingenieurinnen und Technikern, erzielen wir einen doppelten Nutzen.
Die Verfassung bei der Schuldenbremse werden wir definitiv nicht verändern und auch die Steuern nicht erhöhen. Vielleicht mit der Ausnahme von Google, Apple, Amazon und Facebook, die Pandemie-Gewinner sind und ihren fairen Betrag zur Finanzierung des Gemeinwesens endlich leisten dürfen.
Wie würden Sie als Finanzminister mit der Schweiz umgehen? Ein früherer Finanzminister drohte bekanntlich einst mit der Kavallerie?
Peer Steinbrück bediente damals Klischees. Die Schweiz ist, anders als damals dargestellt, längst kein sicherer Hafen mehr für Steuerhinterzieher. Das war kein guter Umgang unter Nachbarn. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass Deutschland, die Europäische Union und die Schweiz gute nachbarschaftliche Beziehungen haben.
Es muss wieder Gespräche geben, wie die bilateralen Vereinbarungen dynamisch aktualisiert werden können. Da darf es kein Nachtreten aus Brüssel geben, aber die Schweiz muss klären, was sie will.
Wir haben so viele gemeinsame Werte und Interessen auch auf der Weltbühne. So muss es auch wieder Gespräche geben, wie die bilateralen Vereinbarungen dynamisch aktualisiert werden können. Da darf es kein Nachtreten aus Brüssel geben, aber die Schweiz muss klären, was sie will. Nur nein zu sagen ist keine Option bei auslaufenden Regelungen.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.