Mit seinem Besuch bei der Familie von George Floyd forciere der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden den Wahlkampf und präsentiere sich ausdrücklich als Anti-Trump, sagt der USA-Kenner und Historiker Christian Lammert.
SRF News: War Joe Bidens Auftritt bei Floyds Familie tatsächliche Anteilnahme oder bloss Wahlkampf?
Christian Lammert: Das kann man nur schwer trennen. Die Frage ist, wie glaubwürdig Biden war. Sein Auftritt war in der Tat ein gutes Gegenbild zu den bisherigen Reaktionen aus dem Weissen Haus. Präsident Donald Trump hat sich bislang zum Fall George Floyd ja kaum geäussert und kommt derzeit kaum aus dem Weissen Haus heraus.
Man muss die Lage jetzt beruhigen.
Jetzt geht Biden in die Offensive und zeigt Empathie. Das ist auch nötig: Man muss die Lage jetzt beruhigen und den Amerikanern zeigen, dass man gesprächsbereit ist. Die Frage wird dann sein, wie Biden das Thema im Wahlkampf umsetzen und ob er spezifische Reformvorstellungen präsentieren kann.
Biden hat sich wegen Corona bisher mit Videos aus seinem Keller zu Wort gemeldet. Nun reist er wieder, gibt Interviews. Haben die Proteste gegen Polizeigewalt dem Wahlkampf eine neue Dynamik gegeben?
Ja. Es sind neue Themen auf der Tagesordnung, über die man sprechen muss. Es werden tiefgreifende Reformen des Polizeiapparates und des Justizwesens diskutiert. Die Demokraten sollten daraus Profit schlagen können, weil sie in diesen Bereichen gute Positionen haben und sie jetzt präsentieren können. Bis zum Wahltag dauert es aber noch fünf Monate.
Die Proteste dürften sich noch länger hinziehen und im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen.
Allerdings: Die USA werden seit ein paar Monaten regelrecht durchgeschüttelt – Amtsenthebungsverfahren, Corona-Pandemie, Proteste gegen Polizeigewalt – da kann man kaum voraussagen, was bis im November noch alles passiert. Sicher scheint, dass sich die Proteste länger hinziehen und im Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen dürften.
Ist das eine Chance für Biden?
Ja – und er nutzt sie auch. In den Umfragen führt er momentan deutlich – viel deutlicher als das vor vier Jahren Hillary Clinton zum gleichen Zeitpunkt tat. Nun kommt es darauf an, wie Biden weiter vorgeht. Die nächste Entscheidung ist für den 1. August angekündigt: Dann will er seine Kandidatin als Vizepräsidentin vorstellen. Wahrscheinlich wird es eine schwarze Frau sein, um die aktuellen Themen am Kochen zu halten.
In seinen Videos und TV-Ansprachen betont Biden immer wieder, die USA bräuchten jetzt eine Führungsfigur, die das Land eint. Kann Biden das?
Vom Typ her hat er eigentlich durchaus ein Potenzial dazu. Biden, der unter Präsident Barack Obama Vizepräsident war, wird wohl auch im Wahlkampf betonen, den USA wieder so etwas wie Normalität zu bringen. Biden ist ein Kandidat, der kaum polarisiert und gut auf die Menschen zugehen kann. So können sich die Demokraten als deutlichen Kontrast zu Trump präsentieren.
Trump und Biden bieten völlig unterschiedliche Perspektiven an – so werden die Wähler auch wirklich eine Wahl haben.
Wird das die entscheidende Frage sein in den nächsten Wochen: Wer kann das Land jetzt einen?
Das wird sicher eine Rolle spielen: Wer ist eher in der Lage, die verschiedenen Krisendimensionen – Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise, soziale Unruhen – anzugehen und mit Vorschlägen in den Wahlkampf zu gehen, wie man diesen Krisen begegnen kann. Da werden Trump und Biden zwei tatsächlich völlig unterschiedliche Perspektiven anbieten. So werden die Wählerinnen und Wähler am 3. November auch wirklich eine Wahl haben. Entsprechend versuchen die Demokraten derzeit, Biden geradezu als Anti-Trump darzustellen. Als einen, der eher moderiert und langfristige Zukunftsperspektiven erarbeitet.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.