Das Bild der Taliban im Westen ist eines von Fundamentalisten, ideologisch einzig dem Islam hörig, der Scharia. Stimmt dieses Bild? Das soll hier mit Islam-Wissenschaftler Reinhard Schulze geklärt werden.
SRF News: Welches Adjektiv benutzen Sie, um die Taliban zu beschreiben. Radikal, radikal-islamisch, islamistisch... Oder ganz ein anderes?
Reinhard Schulze: Von diesen drei würde ich keines benutzen. Die Adjektive drücken nicht das aus, was die Taliban als Weltvorstellung haben. Am ehesten handelt es sich um eine Rechtgläubigkeit, also um eine Orthodoxie, welche in einer besonderen Reinheit in Bezug auf die alte Lehre durchgeführt wird. Man kann es als puritanische Orthodoxie bezeichnen.
Wie erklären Sie, dass es oft als radikal zusammengefasst wird?
Man denkt, dass man mit einem Dachbegriff klarkommt. Man könnte damit alle merkwürdigen und auch nicht einzuordnende islamische Strömungen erfassen. Das Wort radikal drückt eine Distanz gegen über etwas aus, das als gemässigt angesehen wird. Damit scheint genügend gesagt zu sein.
Die Taliban haben keine radikale Auslegung des Islams – sondern eben eine sehr, sehr bestimmte.
Radikal-islamisch ist die Taliban aus Ihrer Sicht nicht?
Nein, denn es sagt nichts aus. Was heisst radikal-islamisch? Man sei in einer besonderen Hinsicht islamisch und würde in einer besonderen Art das Islamische betonen. Das ist sicherlich nicht das Kennzeichen der Taliban, die eigentlich eine sehr spezifische Lehre und eine sehr spezifische Ausrichtung des Islams predigen. Damit haben sie eigentlich keine radikale Auslegung des Islam, sondern eben nur eine sehr, sehr bestimmte – von vielen Menschen auch kaum nachvollziehbare – Interpretation des Islams.
Das lässt sich nicht mit der Scharia begründen, weil in der islamischen Scharia dazu überhaupt keine Aussagen gemacht worden sind.
Beide Flügel, die Baradar- und Hakkani-Fraktion, bekennen sich zur Scharia. Im Westen wird diese oft als islamisches Rechtssystem und konservatives Schreckgespenst beschrieben. Stimmt dieser Eindruck?
Für Afghanistan stimmt das nicht. Das, was in Afghanistan als Scharia definiert ist, ist eine Auslegung des islamischen Rechts entsprechend der Normen, die in den Sittengesetzen der paschtunischen Stammesgesellschaft existieren. Diese Ordnungen sind teilweise sehr viel strenger und weitergehender als das, was selbst ultra- oder radikal-islamische Interpretationen der Scharia ausmachen.
Wie lässt sich mit der Scharia begründen, dass beispielsweise nur noch Buben in die Schule dürfen?
Das lässt sich nicht mit der Scharia begründen, weil in der islamischen Scharia dazu überhaupt keine Aussagen gemacht worden sind, jedenfalls in den klassischen, islamischen Rechtstexten, wo es um Frauen- oder Jugendbildung geht. Hier ist das Sittengesetz am Werk, das unter den Paschtunen herrscht und den Frauen sowie den Mädchen eine primäre Rolle im Haus zuweist. Das ist nicht etwas, was aus dem Islam abgeleitet werden kann, sondern das ist etwas, was sehr spezifisch mit der paschtunischen Gesellschaft zu tun hat, mit der Tradition, die sich so seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat.
Ja, solche Adjektive ärgern mich schon ein wenig, weil deutlich wird, dass wir uns sehr schnell mit Dachbegriffen begnügen.
Nochmals zurück zur Ausgangsfrage. Ärgert es Sie, wenn die Taliban mit solchen Adjektiven beschrieben werden?
Ja, das ärgert mich schon ein wenig, weil deutlich wird, dass wir uns sehr schnell mit Dachbegriffen begnügen. Wir versuchen nicht die Differenzierung nachzuvollziehen, die eigentlich notwendig ist, um zu verstehen und nachzuvollziehen, was überhaupt in Afghanistan Sache ist. Man macht es sich mit solchen Adjektiven, die inhaltlich sehr wenig aussagen, doch sehr einfach. Sie bringen eigentlich nur die Befürchtung zum Ausdruck, die jeder hat, der die Begriffe benutzt.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.