Mehr als höfliche Worte hat heute niemand erwartet. London hat bereits am Freitag klargestellt, dass es keine Verlängerung der Übergangszeit geben wird. Und noch vor dem virtuellen Gipfeltreffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie Ratspräsident Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli hat Boris Johnson dieses Mantra noch einmal bekräftigt: Der Brexit-Vertrag müsse bis im Herbst stehen, sonst gebe es halt keinen Vertrag.
Seine konservative Anhängerschaft wird die markige Durchhalteparole gefreut haben. Nützen wird es den Briten wenig.
Prinzip Hoffnung
Die Verhandlungen zwischen Brüssel und London sind blockiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass in sechs Monaten ein Austrittsabkommen unterzeichnet werden kann, schrumpft mit jeder Woche und damit droht die Gefahr eines «harten Brexit». Johnson hofft wahrscheinlich, dass die EU schon einlenken wird, wenn der Zeitdruck genug gross wird.
Mit dieser Taktik hat der Premierminister Erfahrung. Im vergangenen Herbst ist ihm das Kunststück gelungen, das ursprüngliche Austrittsabkommen seiner Vorgängerin Theresa May in letzter Minute neu zu verhandeln. Genau betrachtet, war es jedoch nicht die EU, die dabei am Ende Konzessionen machte, sondern die britische Regierung. Diese musste eine Grenze zwischen Nordirland und Grossbritannien akzeptieren. Und diese Grenze wird London noch lange beschäftigen.
Eine ungelöste Frage
Die EU befürchtet nämlich, dass die Briten nicht rechtzeitig bereit sein werden, ihre Kontrollpflichten in der Irischen See wahrzunehmen. Diese Befürchtungen wurden am Freitag durch eine Verlautbarung des britischen Staatsministers Michael Gove verstärkt. Dieser verkündete, dass die Regierung von ihrem Plan Abstand nehme, ab 1. Januar 2021 Zollkontrollen bei der Einfuhr von EU-Gütern einzuführen. Das war kein Akt des guten Willens.
Grossbritannien ist logistisch schlicht nicht in der Lage, am 1. Januar 2021 eine solche Kontrolle zu gewährleisten. Die Regierung hat eingeräumt, keine Ahnung zu haben, wo sie die Kontrollen für den Lastwagenverkehr vom Kontinent durchführen soll. Der Hafenort Dover beispielsweise ist viel zu klein – ein Kontrollpunkt müsste irgendwo in Kent noch eingerichtet werden. Die Regierung macht das Coronavirus für diese Verzögerungen verantwortlich und will der britischen Wirtschaft zudem eine länger Anpassungszeit ermöglichen.
Verlängerung nicht ausgeschlossen
In Grossbritannien läuft zurzeit ziemlich viel schief. Den zusätzlichen Ärger mit Brüssel hätte sich Johnson aktuell ersparen können. Um zwei Jahre hätte der Premierminister die Brexit-Verhandlungen aufschieben können und so den Status Quo eines reibungslosen Handels mit der EU erhalten können. Umfragen zeigen, dass mittlerweile eine Mehrheit der Britinnen und Briten eine solche Verlängerung unterstützen würden – selbst überzeugte Brexit-Befürworter.
Eine weitsichtigere Regierung hätte deshalb vielleicht diesen Schritt nicht als ideologischen Verrat, sondern als pragmatische Option in stürmischen Zeiten verstanden.