Die Lage ist schwierig für die Menschen in Kiew: Kälte, Regen, Schnee – und meist kein Strom, manchmal auch keine Heizung. Die russischen Raketen- und Drohnenangriffe lassen Strom und Gas immer wieder ausfallen. Der Journalist Ivan Gayvanovych schildert das Leben in der ukrainischen Hauptstadt im Krieg.
SRF News: Wie gehen die Leute mit der konstanten Bedrohung durch russische Raketen- und Drohenangriffe um?
Ivan Gayvanovych: Die Leute gewöhnen sich an alles Mögliche – auch an diese konstante Bedrohung. Aber natürlich steigt mit jedem neuen Angriff die Anspannung und damit die Angst. Heute beispielsweise haben mich um sechs Uhr morgens Explosionen geweckt.
Wie reagieren die Menschen in Kiew auf solche Angriffe?
Man versucht dann, immer mindestens zwei Wände zwischen sich und der Aussenwelt zu haben – also die Hauswand plus eine Zimmerwand.
Womit haben die Menschen neben der psychischen Belastung am meisten zu kämpfen?
Am einschneidendsten sind wohl die Stromausfälle. Glücklicherweise funktioniert in Kiew meist die Heizung noch, es ist also warm in den Häusern. Doch Strom erhalten wir nur während jeweils zwei Mal zwei Stunden pro Tag.
Strom gibt's nur während zwei Mal zwei Stunden pro Tag.
Manchmal gibt es auch länger Strom, das ist aber unsicher. Den Rest des Tages gibt es keine Elektrizität. Man muss also dann, wenn es Strom gibt, alles erledigen, wozu es Strom braucht.
Leistet der Staat Hilfe, oder helfen sich die Menschen vor allem untereinander?
Die Menschen helfen einander aus, etwa mit Strom aus Akkus, Batterien oder Generatoren. Die Nachfrage nach solchen Geräten ist stark angestiegen. Es gibt aber auch von den Behörden eingerichtete Wärmestuben, wo Handys oder Powerbanks aufgeladen werden können.
Sie leben in Kiew, haben kürzlich aber die Region von Sumy im Nordosten besucht. Wie ist die Situation dort?
Es ist ähnlich – aber noch dunkler, noch weniger Licht in der Nacht als in Kiew. Der Strom fällt auch dort ständig aus, deshalb brennen auch keine Strassenlampen.
Was macht das mit den Menschen – drückt diese Situation vor allem auf die Stimmung oder fördert sie das Zusammenstehen?
Beides. Die Leute bleiben zuversichtlich und glauben, dass wir es schaffen werden. Doch klar, die Leute sind auch müde.
Über neun Monate Krieg und die ständige Anspannung sind sichtbar.
Über neun Monate Krieg und die ständige Anspannung sind sichtbar. So sind etwa auch die Probleme innerhalb von Familien oder die Anzahl Scheidungen in der Ukraine angestiegen.
Die internationale Gemeinschaft hat diese Woche eine Milliarde Dollar Hilfe versprochen, um durch den Winter zu kommen. Wird das Geld reichen?
Das kann ich nicht einschätzen. Doch die Schäden durch die Angriffe auf die Strominfrastruktur sind viel höher als dieser Betrag. Ein einziger Transformator in einem Umspannwerk kostet mehrere Millionen. Deshalb wird es viel länger dauern als ein Jahr, um die Schäden zu beheben.
Wir brauchen Luftabwehrsysteme – um die russischen Raketen abschiessen zu können und dem Krieg ein Ende zu machen.
Braucht die Ukraine auch mehr Militärhilfe?
Auf jeden Fall. Wichtig sind vor allem Luftabwehrsysteme – denn sonst werden jene Infrastrukturen, die repariert werden konnten, gleich wieder durch russische Angriffe zerstört. Man braucht die Militärhilfe zur Verteidigung – um die russischen Raketen abschiessen zu können und dem Krieg ein Ende zu machen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.