Wer hat ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn das Sagen im Gazastreifen? Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, wie Mkhaimar Abusada betont. Er lehrte bis letzten Oktober Politikwissenschaften an der Al-Azhar Universität in Gaza-Stadt, jetzt ist er in Kairo, der Hauptstadt von Ägypten.
Diebstahl ist weit verbreitet, die Häuser der Geflohenen werden geplündert.
Man müsse im Gazastreifen zwei Gebiete unterscheiden: «Im südlichen Rafah ist noch immer die Hamas an der Macht», sagt Abusada. So würden Hamas-Leute nach wie vor die palästinensische Seite des Rafah-Grenzüberganges kontrollieren und die Pässe jener Leute stempeln, die aus Gaza hinaus wollten.
In anderen Teilen des Gazastreifens würden jetzt verschiedenste Akteure um Einfluss kämpfen. Hauptsächlich seien es lokale Banden und mafiöse Familienclans, die für chaotische Zustände im Norden Gazas sorgten.
«Diebstahl ist weit verbreitet, die Häuser der Geflohenen werden geplündert.» Teilweise geschehe das zwar durch Menschen, die nach dem Nötigsten zum Überleben suchen – teilweise aber auch durch kriminelle Banden, welche die gestohlenen Gegenstände auf einem lokalen Markt in Gaza-Stadt wieder verkaufen.
Auch Hilfsgüter werden gestohlen. Im Internet kursieren Videos von bewaffneten Gruppen, welche die von der Luft abgeworfenen Hilfslieferungen in Beschlag nehmen. Unklar ist, ob sie die Ware schützen oder stehlen.
Strukturen alteingesessener Familien
Ein Teil dieser Banden gehöre zu einflussreichen Familien in Gaza, die das Machtvakuum nach der Hamas ausnutzten, um an Einfluss zu gewinnen, sagt der Politikwissenschafter Abusada.
«Die palästinensische Gesellschaft ist eine hauptsächlich von Sippen dominierte Gesellschaft.» Während im Süden Beduinenstämme grosses Gewicht hätten, seien es alteingesessene Familien, die im Norden ihren Einfluss ausübten.
Diese Clans waren im Gazastreifen massgeblich an der Macht beteiligt, bevor die Hamas 2007 die Kontrolle übernahm.
Ohne Hamas erhält die alte Gesellschaftsstruktur neuen Aufwind.
«Die Hamas hat damals diese Familien, die für Chaos und Anarchie gesorgt hatten, schnell und rigoros entmachtet.» So sorgten die Islamisten für eine gewisse Ruhe und Ordnung. Doch jetzt, ohne Hamas, erhält die alte Gesellschaftsstruktur neuen Aufwind. Chaos sei die Konsequenz, so Abusada.
Ähnliches habe man auch in anderen Kriegen beobachtet. «Als die US-Truppen 2003 in Irak Machthaber Saddam Hussein fassten, entstand ein Machtvakuum, das für Chaos sorgte. Dasselbe passiert nun in Gaza.»
Droht ein Bürgerkrieg?
Es ist eine Entwicklung, die Israel nutzen will: Anfang Jahr schlug Israels Verteidigungsminister Yoav Galand vor, in Zukunft mit diesen lokalen Clans zusammen für mehr Sicherheit zu sorgen. Aus Sicht des Politologen aus Gaza ist das ein Rezept für einen Bürgerkrieg. «Es gibt zu viele palästinensische Fraktionen, die untereinander konkurrieren.»
Abusada kann sich nicht vorstellen, dass diese Stämme, Clans und politischen Splitterparteien auch nur ansatzweise in der Lage wären, für Ruhe und Ordnung im Gazastreifen zu sorgen. Zudem lehnen die Stammesführer jede Zusammenarbeit mit Israel ab.
Für Abusada gibt es nur einen Ausweg aus dem Machtvakuum: die Rückkehr der palästinensischen Autonomiebehörde nach Gaza. «Doch dies müsste mit einer Entwaffnung der Hamas sowie auch der wiedererstarkten Clans in Gaza einhergehen. Ein entsprechend langer und steiniger Weg.»