Russland will sich von der internationalen Raumstation ISS zurückziehen und eine eigene Raumstation lancieren. Damit ist das Ende einer historischen Zusammenarbeit im Weltraum absehbar. Sie hatte während Jahrzehnten allen geopolitischen Konflikten getrotzt.
Die Abwendung vom gemeinsamen Projekt mit dem Westen könne eine Chance sein für Russland – und den Westen sowie die Raumfahrt überhaupt, sagt der Journalist Karl Urban.
SRF News: Was bedeutet der Ausstieg der Russen aus der ISS für deren Raumfahrtprogramm?
Karl Urban: Russland richtet sich in der Raumfahrt neu aus – das ist schon seit einigen Jahren zu beobachten. Das Land hat gegenüber dem Westen nicht mehr jene herausragende Rolle – mit dem riesigen Erfahrungsschatz, was den Betrieb von Raumstationen angeht – wie Anfang der 1990er-Jahre. Jetzt schaut Russland in die Zukunft und zieht möglicherweise auch die Zusammenarbeit mit anderen Partnern in Betracht.
Was verliert Russland durch den Rückzug von der ISS?
Sollte sich Russland wirklich ganz zurückziehen und eine Lücke in der russischen Weltraum-Präsenz entstehen, besteht durchaus das Risiko eines Know-how-Verlusts. Schon jetzt bröckelt einiges am russischen Wissen über die Raumfahrt. Das hängt auch mit tendenziell eher schrumpfenden Budgets der russischen Raumfahrt in den letzten Jahren zusammen.
Die eigentlich sehr zuverlässige Sojus-Rakete hatte in den letzten Jahren einige Probleme.
So hatte etwa die Sojus-Rakete – eine der zuverlässigsten und langlebigsten Raketen, die je gebaut wurden – in den letzten Jahren einige Probleme, darunter ein Fehlstart, bei dem zwei Kosmonauten nur knapp dem Tod entronnen sind. Die Zukunft der russischen Raumfahrt hängt wesentlich davon ab, wie ernst Moskau die Finanzierung der Raumfahrt ist.
Was gewinnt Moskau durch den Rückzug von der Zusammenarbeit mit dem Westen?
Man muss sehen: In den 1990er-Jahren war die geopolitische Situation ganz anders als heute. Nach dem Ende der Sowjetunion lag der russische Staat finanziell am Boden, doch man konnte dem Westen das Know-how in der Raumfahrt anbieten. Seit 1986 betrieb Russland die Raumstation MIR, zuvor seit 1982 die Raumstation Saljut 7.
Russland könnte neue Verbündete für die neue Raumstation gewinnen.
Inzwischen hat der Westen aber selber viel Know-how im Betreiben einer Raumstation gesammelt. Russland wiederum könnte etwas hinzugewinnen, wenn es neue Verbündete wie Indien oder die Vereinigten Arabischen Emirate – zwei Länder, die auf dem Sprung zu Raumfahrt -Nationen sind – für ein neues Raumstation-Projekt gewinnen könnte.
Zeigt der russische Rückzug vom gemeinsamen ISS-Projekt möglicherweise auch eine Entwicklung in Richtung weniger internationaler Zusammenarbeit bei der Raumfahrt?
Das gemeinsame russisch-westliche Projekt ISS hat auch auf politischer Ebene viel Positives bewirkt, Astro- und Kosmonauten wurden zusammen ausgebildet. Das geht jetzt auseinander – aber auch deshalb, weil die ISS in die Jahre gekommen ist. Ebenso haben sich die Voraussetzungen geändert: Die Welt ist vielschichtiger geworden, Moskau kann inzwischen auch mit anderen Partner zusammenarbeiten.
Man will den Mond erforschen und Menschen dorthin schicken.
Die Ziele bleiben dabei sowohl auf westlicher wie auf russisch-chinesischer Seite dieselben: Man will den Mond erforschen und Menschen dorthin schicken. Vielleicht hilft es der Raumfahrt sogar, wenn dabei verschiedene Ansätze verfolgt werden. Deshalb muss diese neue Ära nicht nur negativ sein. Die Frage ist vor allem, ob die irdischen Konflikte auf dem Weg ins All auf der Erde zurückgelassen werden – oder nicht.
Das Gespräch führte Nicolas Malzacher.