- Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10'000 Fällen ist eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof bei Danzig (Polen) schuldig gesprochen worden.
- Die Strafkammer am deutschen Landgericht Itzehoe verurteilte die 97 Jahre alte Irmgard F. zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.
- Es ist womöglich der letzte Prozess in Deutschland in Zusammenhang mit dem Holocaust.
Nach 77 Jahren wird Irmgard F. für ihre Taten während dem Zweiten Weltkrieg verurteilt: Die Angeklagte soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur von Stutthof gearbeitet haben.
Dabei soll sie den Verantwortlichen des Konzentrationslagers (KZ) bei der systematischen Tötung von Inhaftierten geholfen haben. Zur Tatzeit war Irmgard F. erst 18 bis 19 Jahre alt war. Deshalb läuft der Prozess vor einer Jugendkammer.
Mit dem Urteil entsprach das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert. Die 15 Nebenklagevertreter hatten sich zum grossen Teil der Strafforderung der Staatsanwaltschaft angeschlossen.
«Die im 98. Lebensjahr stehende Angeklagte hat ihre gerichtliche Schuldig-Sprechung wegen Beihilfe zum mehrtausendfachen Mord erhalten. Mehr kann staatliches Strafrecht inhaltlich nicht leisten», erklärte Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster, der vier Stutthof-Überlebende als Nebenkläger vertrat.
Leiden und massenhaftes Sterben
Der Prozess hatte am 30. September 2021 begonnen. An den 40 Verhandlungstagen hörte das Gericht acht der zeitweise 31 Nebenkläger als Zeugen. Die Überlebenden des Lagers berichteten vom Leiden und massenhaften Sterben in Stutthof.
Wichtigster Zeuge war jedoch der historische Sachverständige Stefan Hördler, der sein Gutachten in 14 Sitzungen vorstellte. Die Verteidigung hatte einen Befangenheitsantrag gegen ihn gestellt, den das Gericht aber ablehnte.
Die Angeklagte hatte sich anfangs dem Verfahren nicht stellen wollen. Am ersten Verhandlungstag verschwand sie frühmorgens aus ihrem Seniorenheim. Die Polizei griff sie Stunden später auf einer Strasse in Hamburg auf. Das Gericht erliess einen Haftbefehl. Die damals 96-Jährige verbrachte fünf Tage in Untersuchungshaft.
Erst ganz zum Schluss des Prozesses hatte sie ihr Schweigen gebrochen. «Es tut mir leid, was alles geschehen ist», sagte sie in ihrem letzten Wort. Die 97-Jährige fügte hinzu: «Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.»
Nicht nur Konzentrationsleiter werden verurteilt
In Deutschland hatten sich in den vergangenen Jahren etliche frühere KZ-Bedienstete im weit fortgeschrittenen Alter noch vor Gericht verantworten müssen. Denn bei bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit hatte die deutsche Justiz über Jahrzehnte nur diejenigen verfolgt, die zur Leitung der Konzentrationslager gehört oder selbst gemordet hatten oder durch besondere Grausamkeit aufgefallen waren, sogenannte Exzesstäter.
Ein Wendepunkt war der Prozess gegen den früheren Wachmann John Demjanjuk, der 2011 wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen verurteilt wurde. Heutzutage wird auch die allgemeine Dienstausübung in einem Lager, in dem erkennbar systematische Massenmorde stattfanden, juristisch geahndet.
Der Prozess gegen Irmgard F. ist möglicherweise der Letzte in Deutschland wegen Verbrechen während des Nationalsozialismus. Ende Juni 2022 hatte das Landgericht Neuruppin einen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden Häftlingen zu fünf Jahren Haft verurteilt.