2021 ist das erste Jahr nach Präsident Donald Trump und das erste Regierungsjahr von US-Präsident Joe Biden. Dieser ist angetreten als Präsident der Versöhnung. Als Präsident aller Amerikanerinnen und Amerikaner. Als Brückenbauer. Doch die Gräben scheinen nicht weniger tief als letztes Jahr. Der Sturm des Kapitols, die Erzählung von der gestohlenen Wahl spalten das Land. Biden kämpft gegen Gegner in seiner eigenen Partei und schlechte Umfragewerte. Die Politologin Constanze Stelzenmüller zieht eine Zwischenbilanz.
SRF News: Ist die Bilanz von Joe Biden wirklich so verheerend, wie die Headlines republikanischer Sender glauben machen wollen?
Constanze Stelzenmüller: Natürlich nicht. Es ist noch kein Jahr Regierungszeit vorbei und Biden hat einige seiner ganz grossen Agendapunkte umsetzen können: ein grosses Notfallmassnahmenpaket im Frühjahr, das gewaltige Infrastrukturpaket jetzt im Herbst. Was nicht geklappt hat, ist der Afghanistan-Abzug und das Vertreiben der Pandemie. Die Regierung trat an mit dem Versprechen, man werde sie bis zum Sommer in den Griff kriegen. Jetzt hat die Omikron-Welle das Land fest im Griff.
Es ist doch ein angenehmer Umstand, von einer Regierung regiert zu werden, die sich rationalen Prinzipien verschrieben hat.
Insgesamt muss man sagen: Wenn man vier Jahre Trump miterlebt hat, ist es doch ein angenehmer Umstand, von einer Regierung regiert zu werden, die sich rationalen Prinzipien verschrieben hat.
Es gibt viele Menschen, die nicht an die Rechtmässigkeit der Wahl Bidens glauben. Hat sich das im Laufe des Jahres verschärft?
In der Tat, mein Kollege Jonathan Rauch von der Denkfabrik Brookings hat ein Buch geschrieben, in dem er von einem epistemologischen Bürgerkrieg spricht, also der Entstehung von zwei Wahrnehmungswelten, die gar nicht mehr miteinander kommunizieren können. Das ist bestürzend.
Die Republikanische Partei hat sich hier in einem Ausmass radikalisiert, die sich viele Beobachter nicht wirklich hätten vorstellen können.
Das gibt es bekanntlich nicht nur in den USA. Aber hier wirkt es dramatischer, weil es nur zwei Parteien gibt. Und weil die Partei, die gerade in der Opposition ist, sich anschickt, sich auf die Zwischenwahlen 2022 vorzubereiten. Und das – anders als in der chaotischen Amtszeit von Trump – sehr systematisch und auch mit systematischem Bearbeiten der öffentlichen Meinung grosser Bevölkerungsgruppen, wonach die Demokraten und Präsident Biden die Wahl von 2020 gestohlen hätten.
In einem Jahr sind Zwischenwahlen. Wenn der Wahlkampf wieder anzieht, wird die Stimmung wohl kaum versöhnlicher werden?
In der Tat wird es ein heisses Wahljahr. Das hat verschiedene Ursachen. Die Tatsache, dass die Republikaner erstens daran arbeiten, das Wahlrecht zu ihren Gunsten zu verändern und zweitens die Wahlbehörden neu zu besetzen. Das war ja das Problem bei der Wahl von 2020, dass sich republikanische Wahlbehördenleitende den Versuchen der Republikaner, die Wahl zu torpedieren beziehungsweise in ihrem Sinne auszulegen, widersetzt hatten.
Die Republikaner wollen die Macht zurück. Fragt sich, ob mit oder ohne Trump. Gibt das nicht auch Raum für neue Bewegungen?
Das sehe ich momentan nicht. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Parteien in den USA, anders als in Europa, sehr viel losere Verbunde sind, die viel mehr Spannung und Dynamik aushalten. Die sind nicht so organisiert mit Ortsvereinen und straffen vertikalen Machtstrukturen. Das bedeutet, dass es neue Bewegungen schwerer haben, anzukommen. Was man allerdings sagen kann, ist – und das ist neu in der Geschichte der amerikanischen Parteien –, dass die republikanische Partei sich hier in einem Ausmass radikalisiert hat, die sich viele Beobachter nicht wirklich hätten vorstellen können.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.