Das Ja zur AHV-Reform fiel nicht nur äusserst knapp aus, sondern zeigte auch einen grossen Geschlechtergraben. Politologin Cloé Jans ordnet ein.
SRF News: Eine Nachabstimmungsbefragung von Tamedia zeigt: Die Frauen lehnten die AHV-Reform mit Zweidrittelmehrheit (63 Prozent) ab, zwei Drittel (65 Prozent) der Männer stimmten dafür. Wie interpretieren Sie diese Zahlen?
Cloé Jans: Tatsächlich haben alle Vor-Umfragen vor dem Abstimmungssonntag bereits darauf hingewiesen, dass ein sehr grosser Geschlechtergraben bei der AHV-Reform entstehen könnte. Wir haben unsererseits auch eine Analyse der Gemeinden vor der Abstimmung gemacht und dabei gesehen, dass in jenen Gemeinden, wo der Frauenanteil an den Stimmberechtigten höher war, die Vorlage deutlicher abgelehnt wurde.
Wie konnten die Frauen überstimmt werden?
Die Frage ist, wer effektiv an die Urne geht. Traditionellerweise war es so, dass Männer deutlich häufiger an die Urne gingen als Frauen. Das war insbesondere nach der Einführung des Frauenstimmrechts zu beobachten. Es gilt auch eher für ältere Frauen als für jüngere Menschen. Wenn wir jetzt wissen, dass der durchschnittliche Urnengänger 57 Jahre alt ist, dann gehört dieser vielleicht noch eher zum traditionelleren Semester.
Ein weiterer Grund ist, dass Frauen politisch tendenziell etwas weniger stark gebunden sind als Männer und darum situativ besser mobilisierbar sind. Wir können daraus die These aufstellen, dass in der relativ starken Schlussmobilisierung vielleicht die Frauen noch stärker zur Urne gegangen sind, weshalb das Resultat dann knapper geworden ist als gedacht.
Braucht es Mechanismen, um eine höhere Repräsentativität zu erreichen?
Die Frage, die im Raum steht, ist: Haben wir es mit einer Tyrannei der Mehrheit gegenüber der Minderheit zu tun? Und zwar bezüglich der Sprachregionen, aber hinsichtlich dieser Abstimmung auch klar in Bezug auf die Geschlechterfrage.
Wenn die nächsten Reformen zur Sanierung der Altersvorsorge auch wieder in die Richtung gehen, dass von den Frauen grössere Opfer erwartet werden, dann ist das für die Legitimität ein grosses Problem.
Die Legitimität des Prozesses selbst ist in der Schweiz anerkannt und führt selten zu Kontroversen. Man ist sich gewohnt, abzustimmen und Mehrheitsentscheide mitzutragen. Aber wenn systematisch eine Gruppe immer wieder überstimmt wird und in diesem Bewusstsein dann Reformen ausgearbeitet werden, die sich ein Stück weit auf dem Buckel dieser Gruppe austragen, ist das für den Zusammenhalt des Landes längerfristig problematisch.
Ganz konkret auf die Frauenfrage gemünzt: Wenn die nächsten Reformen zur Sanierung der Altersvorsorge auch wieder in die Richtung gehen, dass von den Frauen grössere Opfer erwartet werden, dann ist das für die Legitimität ein grosses Problem.
Neben dem, was an der Urne geschieht, bleibt auch das Parlament wichtig für die Legitimität der Politik, wenn es um Frauenfragen geht. Hier sind Frauen noch immer in der Minderheit und ihre Anliegen haben einen schweren Stand. Wir wissen aber: Frauen haben in politischen Fragen einen anderen Fokus als Männer und wünschen eine andere Politik. Das ist zentral, dass man das Bewusstsein dafür hat, wenn man am sozialen Zusammenhalt im Land interessiert ist.
Wie hat sich der Rösti- bzw. Polentagraben gezeigt?
Wir sehen einen klassischen Rösti- und Polentagraben. Wir haben die lateinische Schweiz versus die Deutschschweiz und das ist ein Phänomen, das man gerade bei sozialpolitischen Abstimmungen häufiger sieht. Die lateinische Schweiz ist hier viel eher geneigt, links abzustimmen als die Deutschschweiz, wenn es um einen starken Sozialstaat geht.
Das Gespräch führte Saya Bausch.