Am 30. November 1993 wurde in der Schweiz erstmals Heroin an Süchtige abgegeben. Es war ein Tabubruch, möglich nur wegen der offenen Drogenszene in Zürich: Diese machte das Elend der Sucht dermassen sichtbar, dass man in Bern umdenken musste und Gesetze anpasste.
Konzentration am Platzspitz
In Zürich boten sich Anfang der 90er Jahre apokalyptisch wirkende Szenerien: Die offene Drogenszene. Bis 1992 im Platzspitz-Park, dann bis zur Schliessung der Szene 1995 am Letten. Bis 2000 Menschen versorgten sich täglich mit Stoff; es wurde offen gedealt, gespritzt – und gestorben.
Die Zürcher Politik hatte sich Ende der 80er Jahre der Realität stellen müssen: Die Süchtigen lassen sich nicht vertreiben. Auch die grassierende HIV-Seuche unter Heroinabhängigen (wegen des Spritzentausches) machte eine medizinische Betreuung der «Szene» nötig. Das war nur mit einem permanenten Standort – dem Platzspitz – möglich.
Drogen vom Staat?
Das grösste Problem für die Gesellschaft war aber nicht die Sucht selber, sondern die Verelendung der Süchtigen. Und diese wiederum war eng damit verbunden, dass Heroin illegal war (und ist). Kleinkriminalität zur Geldbeschaffung, Drogenprostitution und die permanente Abhängigkeit von Dealern waren die Folgen. Wer in der Drogenszene verkehrte, konnte kein stabiles Leben führen.
Der Lösungsansatz von Fachleuten war: kontrollierte Abgabe der Droge durch den Staat. Ziel dieser Überlegung war nicht die Suchtfreiheit der Betroffenen, sondern ihnen wieder ein stabiles Leben in geordneten Bahnen zu ermöglichen. Und damit ein halbwegs gesundes Überleben zu sichern. Und dieses Ziel verfolgte die damals schon links-grüne Zürcher Stadtregierung. Sie setzte auf Drogen vom Staat.
Bundesräte in der Drogenszene
Drogen vom Staat? Das wäre ein massiver Tabubruch gewesen – und nicht nur in der Schweiz schlicht verboten. «Ich habe beim zuständigen Bundesrat Flavio Cotti immer wieder um Termine ersucht, die regelmässig abgesagt worden sind» erinnert sich der damalige Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann (SP).
Zu Beginn der 90er Jahre war die Zürcher Drogenszene für den Rest der Schweiz ein Zürcher Problem. «Dabei konnten wir mit regelmässigen Zählungen nachweisen: 80% derjenigen der Süchtigen kamen aus anderen Gemeinden, von ausserhalb des Kantons, ja sogar aus dem Ausland.»
Estermann führte Bundesräte, Kantonsregierungen und ParlamentarierInnen durch den «Needlepark» und versuchte, die Bundespolitik zum Einlenken zu bewegen. «Wir brachten die Süchtigen regelmässig in ihre Heimatkantone zurück, damit diese merken: es ist auch euer Problem», sagt Estermann.
1992 bewilligte der Bund wissenschaftliche Versuche für eine ärztliche Verschreibung von Betäubungsmitteln. «Grosse Fortschritte aber konnten wir erst machen, als die SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss den CVPler Cotti ablöste.»
Dreifuss machte vorwärts
Im Juni 1993 – Dreifuss kam im März ins Amt – bewilligte der Bund mehrere Projekte und damit die Opiatabgabe an 700 zuvor ausgewählte Süchtige. Diese mussten – wie heute auch – mehrere Entzugsversuche hinter sich haben. Man konnte also nie direkt Opiate beziehen, sondern musste eine lange Fixer-Karriere durchlaufen haben.
Die Heroinabgabe alleine genügte aber nicht zur Auflösung der Drogenszene: «Wir bekamen auch härtere Gesetze gegen Kleindealer, die Repression und Betreuungsangebote wurden parallel ausgebaut», sagt Estermann. Aber: «Es brauchte die offene Drogenszene», meint Estermann, um eine neue Drogenpolitik schweizweit zu etablieren. 25 Jahre nach der ersten Heroinabgabe bewährt sich diese noch immer.